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Eingabe sei, wie erwähnt, noch nicht überreicht, das eile aber auch nicht, viel
wichtiger seien die einleitenden Besprechungen mit maßgebenden Beamten,
und die hätten schon stattgefunden. Mit verschiedenem Erfolg, wie offen
zugestanden werden soll. Es sei viel besser, vorläufig Einzelheiten nicht zu
verraten, durch die K. nur ungünstig beeinflußt und allzu hoffnungsfreudig
oder allzu ängstlich gemacht werden könnte, nur so viel sei gesagt, daß sich
einzelne sehr günstig ausgesprochen und sich auch sehr bereitwillig gezeigt
haben, während andere sich weniger günstig geäußert, aber doch ihre Mithilfe
keineswegs verweigert haben. Das Ergebnis sei also im ganzen sehr
erfreulich, nur dürfe man daraus keine besonderen Schlüsse ziehen, da alle
Vorverhandlungen ähnlich beginnen und durchaus erst die weitere
Entwicklung den Wert dieser Vorverhandlungen zeigt. Jedenfalls sei noch
nichts verloren, und wenn es noch gelingen sollte, den Kanzleidirektor trotz
allem zu gewinnen - es sei schon verschiedenes zu diesem Zwecke eingeleitet
-, dann sei das Ganze - wie die Chirurgen sagen - eine reine Wunde, und man
könne getrost das Folgende erwarten.
In solchen und ähnlichen Reden war der Advokat unerschöpflich. Sie
wiederholten sich bei jedem Besuch. Immer gab es Fortschritte, niemals aber
konnte die Art dieser Fortschritte mitgeteilt werden. Immerfort wurde an der
ersten Eingabe gearbeitet, aber sie wurde nicht fertig, was sich meistens beim
nächsten Besuch als großer Vorteil herausstellte, da die letzte Zeit, was man
nicht hätte voraussehen können, für die Übergabe sehr ungünstig gewesen
wäre. Bemerkte K. manchmal, ganz ermattet von den Reden, daß es doch,
selbst unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten, sehr langsam
vorwärtsgehe, wurde ihm entgegnet, es gehe gar nicht langsam vorwärts,
wohl aber wäre man schon viel weiter, wenn K. sich rechtzeitig an den
Advokaten gewendet hätte. Das hatte er aber leider versäumt, und dieses
Versäumnis werde auch noch weitere Nachteile bringen, nicht nur zeitliche.
Die einzige wohltätige Unterbrechung dieser Besuche war Leni, die es
immer so einzurichten wußte, daß sie dem Advokaten in Anwesenheit K.s den
Tee brachte. Dann stand sie hinter K., sah scheinbar zu, wie der Advokat, mit
einer Art Gier tief zur Tasse hinabgebeugt, den Tee eingoß und trank, und ließ
im geheimen ihre Hand von K. erfassen. Es herrschte völliges Schweigen.
Der Advokat trank. K. drückte Lenis Hand, und Leni wagte es manchmal, K.s
Haare sanft zu streicheln. »Du bist noch hier?« fragte der Advokat, nachdem
er fertig war. »Ich wollte das Geschirr wegnehmen«, sagte Leni, es gab noch
einen letzten Händedruck, der Advokat wischte sich den Mund und begann
mit neuer Kraft auf K. einzureden.
War es Trost oder Verzweiflung, was der Advokat erreichen wollte? K.
wußte es nicht, wohl aber hielt er es für feststehend, daß seine Verteidigung
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155