Seite - 93 - in Der Prozeß
Bild der Seite - 93 -
Text der Seite - 93 -
Lange saß er so, ohne zu wissen, was ihm eigentlich Sorgen machte, nur
von Zeit zu Zeit blickte er ein wenig erschreckt über die Schulter hinweg zur
Vorzimmertür, wo er irrtümlicherweise ein Geräusch zu hören geglaubt hatte.
Da aber niemand kam, wurde er ruhiger, ging zum Waschtisch, wusch sich
mit kaltem Wasser und kehrte mit freierem Kopf zu seinem Fensterplatz
zurück. Der Entschluß, seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen,
stellte sich ihm schwerwiegender dar, als er ursprünglich angenommen hatte.
Solange er die Verteidigung auf den Advokaten überwälzt hatte, war er doch
noch vom Prozeß im Grunde wenig betroffen gewesen, er hatte ihn von der
Ferne beobachtet und hatte unmittelbar von ihm kaum erreicht werden
können, er hatte nachsehen können, wann er wollte, wie seine Sache stand,
aber er hatte auch den Kopf wieder zurückziehen können, wann er wollte.
Jetzt hingegen, wenn er seine Verteidigung selbst führen würde, mußte er sich
- wenigstens für den Augenblick - ganz und gar dem Gericht aussetzen, der
Erfolg dessen sollte ja für später seine vollständige und endgültige Befreiung
sein, aber um diese zu erreichen, mußte er sich vorläufig jedenfalls in viel
größere Gefahr begeben als bisher. Hätte er daran zweifeln wollen, so hätte
ihn das heutige Beisammensein mit dem Direktor-Stellvertreter und dem
Fabrikanten hinreichend vom Gegenteil überzeugen können. Wie war er doch
dagesessen, schon vom bloßen Entschluß, sich selbst zu verteidigen, gänzlich
benommen? Wie sollte es aber später werden? Was für Tage standen ihm
bevor! Würde er den Weg finden, der durch alles hindurch zum guten Ende
führte? Bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung - und alles andere war
sinnlos -, bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung gleichzeitig die
Notwendigkeit, sich von allem anderen möglichst abzuschließen? Würde er
das glücklich überstehen? Und wie sollte ihm die Durchführung dessen in der
Bank gelingen? Es handelte sich ja nicht nur um die Eingabe, für die ein
Urlaub vielleicht genügt hätte, obwohl die Bitte um einen Urlaub gerade jetzt
ein großes Wagnis gewesen wäre, es handelte sich doch um einen ganzen
Prozeß, dessen Dauer unabsehbar war. Was für ein Hindernis war plötzlich in
K.s Laufbahn geworfen worden!
Und jetzt sollte er für die Bank arbeiten? Er sah auf den Schreibtisch hin. -
Jetzt sollte er Parteien vorlassen und mit ihnen verhandeln? Während sein
Prozeß weiterrollte, während oben auf dem Dachboden die Gerichtsbeamten
über den Schriften dieses Prozesses saßen, sollte er die Geschäfte der Bank
besorgen? Sah es nicht aus wie eine Folter, die, vom Gericht anerkannt, mit
dem Prozeß zusammenhing und ihn begleitete? Und würde man etwa in der
Bank bei der Beurteilung seiner Arbeit seine besondere Lage
berücksichtigen? Niemand und niemals. Ganz unbekannt war ja sein Prozeß
nicht, wenn es auch noch nicht ganz klar war, wer davon wußte und wieviel.
Bis zum Direktor-Stellvertreter aber war das Gerücht hoffentlich noch nicht
93
zurück zum
Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155