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gedrungen, sonst hätte man schon deutlich sehen müssen, wie er es ohne jede
Kollegialität und Menschlichkeit gegen K. ausnützen würde. Und der
Direktor? Gewiß, er war K. gut gesinnt, und er hätte wahrscheinlich, sobald er
vom Prozeß erfahren hätte, soweit es an ihm lag, manche Erleichterungen für
K. schaffen wollen, aber er wäre damit gewiß nicht durchgedrungen, denn er
unterlag jetzt, da das Gegengewicht, das K. bisher gebildet hatte, schwächer
zu werden anfing, immer mehr dem Einfluß des Direktor-Stellvertreters, der
außerdem auch den leidenden Zustand des Direktors zur Stärkung der eigenen
Macht ausnutzte. Was hatte also K. zu erhoffen? Vielleicht schwächte er
durch solche Überlegungen seine Widerstandskraft, aber es war doch auch
notwendig, sich selbst nicht zu täuschen und alles so klar zu sehen, als es
augenblicklich möglich war.
Ohne besonderen Grund, nur um vorläufig noch nicht zum Schreibtisch
zurückkehren zu müssen, öffnete er das Fenster. Es ließ sich nur schwer
öffnen, er mußte mit beiden Händen die Klinke drehen. Dann zog durch das
Fenster in dessen ganzer Breite und Höhe der mit Rauch vermischte Nebel in
das Zimmer und füllte es mit einem leichten Brandgeruch. Auch einige
Schneeflocken wurden hereingeweht. »Ein häßlicher Herbst«, sagte hinter K.
der Fabrikant, der vom Direktor-Stellvertreter kommend unbemerkt ins
Zimmer getreten war. K. nickte und sah unruhig auf die Aktentasche des
Fabrikanten, aus der dieser nun wohl die Papiere herausziehen würde, um K.
das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Direktor-Stellvertreter mitzuteilen.
Der Fabrikant aber folgte K.s Blick, klopfte auf seine Tasche und sagte, ohne
sie zu öffnen: »Sie wollen hören, wie es ausgefallen ist. Ich trage schon fast
den Geschäftsabschluß in der Tasche. Ein reizender Mensch, Ihr Direktor-
Stellvertreter, aber durchaus nicht ungefährlich.« Er lachte, schüttelte K.s
Hand und wollte auch ihn zum Lachen bringen. Aber K. schien es nun wieder
verdächtig, daß ihm der Fabrikant die Papiere nicht zeigen wollte, und er fand
an der Bemerkung des Fabrikanten nichts zum Lachen. »Herr Prokurist«,
sagte der Fabrikant, »Sie leiden wohl unter dem Wetter? Sie sehen heute so
bedrückt aus.« »Ja«, sagte K. und griff mit der Hand an die Schläfe,
»Kopfschmerzen, Familiensorgen.« »Sehr richtig«, sagte der Fabrikant, der
ein eiliger Mensch war und niemanden ruhig anhören konnte, »jeder hat sein
Kreuz zu tragen.« Unwillkürlich hatte K. einen Schritt gegen die Tür
gemacht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten, dieser aber sagte: »Ich
hätte, Herr Prokurist, noch eine kleine Mitteilung für Sie. Ich fürchte sehr, daß
ich Sie gerade heute damit vielleicht belästige, aber ich war schon zweimal in
der letzten Zeit bei Ihnen und habe es jedesmal vergessen. Schiebe ich es aber
noch weiterhin auf, verliert es wahrscheinlich vollständig seinen Zweck. Das
wäre aber schade, denn im Grunde ist meine Mitteilung vielleicht doch nicht
wertlos.« Ehe K. Zeit hatte zu antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran,
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155