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die Verhandlungen statt des Herrn Prokuristen. Ihre Angelegenheiten müssen
natürlich sofort besprochen werden. Wir sind Geschäftsleute wie Sie und
wissen die Zeit von Geschäftsleuten richtig zu bewerten. Wollen Sie hier
eintreten?« Und er öffnete die Tür, die zu dem Vorzimmer seines Büros
führte.
Wie sich doch der Direktor-Stellvertreter alles anzueignen verstand, was K.
jetzt notgedrungen aufgeben mußte! Gab aber K. nicht mehr auf, als
unbedingt nötig war? Während er mit unbestimmten und, wie er sich
eingestehen mußte, sehr geringen Hoffnungen zu einem unbekannten Maler
lief, erlitt hier sein Ansehen eine unheilbare Schädigung. Es wäre
wahrscheinlich viel besser gewesen, den Winterrock wieder auszuziehen und
wenigstens die zwei Herren, die ja nebenan doch noch warten mußten, für
sich zurückzugewinnen. K. hätte es vielleicht auch versucht, wenn er nicht
jetzt in seinem Zimmer den Direktor-Stellvertreter erblickt hätte, wie er im
Bücherständer, als wäre es sein eigener, etwas suchte. Als K. sich erregt der
Tür näherte, rief er: »Ach, Sie sind noch nicht weggegangen!« Er wandte ihm
sein Gesicht zu, dessen viele straffe Falten nicht Alter, sondern Kraft zu
beweisen schienen, und fing sofort wieder zu suchen an. »Ich suche eine
Vertragsabschrift«, sagte er, »die sich, wie der Vertreter der Firma behauptet,
bei Ihnen befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchen helfen?« K. machte
einen Schritt, aber der Direktor-Stellvertreter sagte: »Danke, ich habe es
schon gefunden«, und kehrte mit einem großen Paket Schriften, das nicht nur
die Vertragsabschrift, sondern gewiß noch vieles andere enthielt, wieder in
sein Zimmer zurück.
»Jetzt bin ich ihm nicht gewachsen«, sagte sich K., »wenn aber meine
persönlichen Schwierigkeiten einmal beseitigt sein werden, dann soll er
wahrhaftig der erste sein, der es zu fühlen bekommt, und zwar möglichst
bitter.« Durch diesen Gedanken ein wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der
schon lange die Tür zum Korridor für ihn offenhielt, den Auftrag, dem
Direktor gelegentlich die Meldung zu machen, daß er sich auf einem
Geschäftsgang befinde, und verließ, fast glücklich darüber, sich eine Zeitlang
vollständiger seiner Sache widmen zu können, die Bank.
Er fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadt wohnte, die jener, in
welcher sich die Gerichtskanzleien befanden, vollständig entgegengesetzt
war. Es war eine noch ärmere Gegend, die Häuser noch dunkler, die Gassen
voll Schmutz, der auf dem zerflossenen Schnee langsam umhertrieb. Im
Hause, in dem der Maler wohnte, war nur ein Flügel des großen Tores
geöffnet, in den anderen aber war unten in der Mauer eine Lücke gebrochen,
aus der gerade, als sich K. näherte, eine widerliche, gelbe, rauchende
Flüssigkeit herausschoß, vor der sich einige Ratten in den nahen Kanal
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Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155