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flüchteten. Unten an der Treppe lag ein kleines Kind bäuchlings auf der Erde
und weinte, aber man hörte es kaum infolge des alles übertönenden Lärms,
der aus einer Klempnerwerkstätte auf der anderen Seite des Torganges kam.
Die Tür der Werkstätte war offen, drei Gehilfen standen im Halbkreis um
irgendein Werkstück, auf das sie mit den Hämmern schlugen. Eine große
Platte Weißblech, die an der Wand hing, warf ein bleiches Licht, das zwischen
zwei Gehilfen eindrang und die Gesichter und Arbeitsschürzen erhellte. K.
hatte für alles nur einen flüchtigen Blick, er wollte möglichst rasch hier fertig
werden, nur den Maler mit ein paar Worten ausforschen und sofort wieder in
die Bank zurückgehen. Wenn er hier nur den kleinsten Erfolg hatte, sollte das
auf seine heutige Arbeit in der Bank noch eine gute Wirkung ausüben. Im
dritten Stockwerk mußte er seinen Schritt mäßigen, er war ganz außer Atem,
die Treppen, ebenso wie die Stockwerke, waren übermäßig hoch, und der
Maler sollte ganz oben in einer Dachkammer wohnen. Auch war die Luft sehr
drückend, es gab keinen Treppenhof, die enge Treppe war auf beiden Seiten
von Mauern eingeschlossen, in denen nur hier und da fast ganz oben kleine
Fenster angebracht waren. Gerade als K. ein wenig stehenblieb, liefen ein
paar kleine Mädchen aus einer Wohnung heraus und eilten lachend die Treppe
weiter hinauf. K. folgte ihnen langsam, holte eines der Mädchen ein, das
gestolpert und hinter den andern zurückgeblieben war, und fragte es, während
sie nebeneinander weiterstiegen: »Wohnt hier ein Maler Titorelli?« Das
Mädchen, ein kaum dreizehnjähriges, etwas buckliges Mädchen, stieß ihn
darauf mit dem Ellbogen an und sah von der Seite zu ihm auf. Weder ihre
Jugend noch ihr Körperfehler hatte verhindern können, daß sie schon ganz
verdorben war. Sie lächelte nicht einmal, sondern sah K. ernst mit scharfem,
aufforderndem Blicke an. K. tat, als hätte er ihr Benehmen nicht bemerkt, und
fragte: »Kennst du den Maler Titorelli?« Sie nickte und fragte ihrerseits:
»Was wollen Sie von ihm?« K. schien es vorteilhaft, sich noch schnell ein
wenig über Titorelli zu unterrichten: »Ich will mich von ihm malen lassen«,
sagte er. »Malen lassen?« fragte sie, öffnete übermäßig den Mund, schlug
leicht mit der Hand gegen K., als hätte er etwas außerordentlich
überraschendes oder Ungeschicktes gesagt, hob mit beiden Händen ihr
ohnedies sehr kurzes Röckchen und lief, so schnell sie konnte, hinter den
andern Mädchen her, deren Geschrei schon undeutlich in der Höhe sich
verlor. Bei der nächsten Wendung der Treppe aber traf K. schon wieder alle
Mädchen. Sie waren offenbar von der Buckligen von K.s Absicht verständigt
worden und erwarteten ihn. Sie standen zu beiden Seiten der Treppe, drückten
sich an die Mauer, damit K. bequem zwischen ihnen durchkomme, und
glätteten mit der Hand ihre Schürzen. Alle Gesichter, wie auch diese
Spalierbildung, stellten eine Mischung von Kindlichkeit und Verworfenheit
dar. Oben, an der Spitze der Mädchen, die sich jetzt hinter K. lachend
zusammenschlossen, war die Bucklige, welche die Führung übernahm. K.
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155