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»Anders verhält es sich aber damit, was man in dieser Hinsicht hinter dem
öffentlichen Gericht versucht, also in den Beratungszimmern, in den
Korridoren oder zum Beispiel auch hier, im Atelier.« Was der Maler jetzt
sagte, schien K. nicht mehr so unglaubwürdig, es zeigte vielmehr eine große
Übereinstimmung mit dem, was K. auch von anderen Leuten gehört hatte. Ja,
es war sogar sehr hoffnungsvoll. Waren die Richter durch persönliche
Beziehungen wirklich so leicht zu lenken, wie es der Advokat dargestellt
hatte, dann waren die Beziehungen des Malers zu den eitlen Richtern
besonders wichtig und jedenfalls keineswegs zu unterschätzen. Dann fügte
sich der Maler sehr gut in den Kreis von Helfern, die K. allmählich um sich
versammelte. Man hatte einmal in der Bank sein Organisationstalent gerühmt,
hier, wo er ganz allein auf sich gestellt war, zeigte sich eine gute Gelegenheit,
es auf das Äußerste zu erproben. Der Maler beobachtete die Wirkung, die
seine Erklärung auf K. gemacht hatte und sagte dann mit einer gewissen
Ängstlichkeit: »Fällt es Ihnen nicht auf, daß ich fast wie ein Jurist spreche? Es
ist der ununterbrochene Verkehr mit den Herren vom Gericht, der mich so
beeinflußt. Ich habe natürlich viel Gewinn davon, aber der künstlerische
Schwung geht zum großen Teil verloren.« »Wie sind Sie denn zum erstenmal
mit den Richtern in Verbindung gekommen?« fragte K., er wollte zuerst das
Vertrauen des Malers gewinnen, bevor er ihn geradezu in seine Dienste nahm.
»Das war sehr einfach«, sagte der Maler, »ich habe diese Verbindung geerbt.
Schon mein Vater war Gerichtsmaler. Es ist das eine Stellung, die sich immer
vererbt. Man kann dafür neue Leute nicht brauchen. Es sind nämlich für das
Malen der verschiedenen Beamtengrade so verschiedene, vielfache und vor
allem geheime Regeln aufgestellt, daß sie überhaupt nicht außerhalb
bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der Schublade zum Beispiel
habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters, die ich niemandem zeige. Aber
nur wer sie kennt, ist zum Malen von Richtern befähigt. Jedoch, selbst wenn
ich sie verlöre, blieben mir noch so viele Regeln, die ich allein in meinem
Kopfe trage, daß mir niemand meine Stellung streitig machen könnte. Es will
doch jeder Richter so gemalt werden, wie die alten, großen Richter gemalt
worden sind, und das kann nur ich.« »Das ist beneidenswert«, sagte K., der an
seine Stellung in der Bank dachte. »Ihre Stellung ist also unerschütterlich?«
»Ja, unerschütterlich«, sagte der Maler und hob stolz die Achseln. »Deshalb
kann ich es auch wagen, hier und da einem armen Manne, der einen Prozeß
hat, zu helfen.« »Und wie tun Sie das?« fragte K., als sei es nicht er, den der
Maler soeben einen armen Mann genannt hatte. Der Maler aber ließ sich nicht
ablenken, sondern sagte: »In Ihrem Fall zum Beispiel werde ich, da Sie
vollständig unschuldig sind, folgendes unternehmen.« Die wiederholte
Erwähnung seiner Unschuld wurde K. schon lästig. Ihm schien es manchmal,
als mache der Maler durch solche Bemerkungen einen günstigen Ausgang des
Prozesses zur Voraussetzung seiner Hilfe, die dadurch natürlich in sich selbst
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155