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vollständig abgesperrt zu sein, verursachte ihm Schwindel. Er schlug leicht
mit der Hand auf das Federbett neben sich und sagte mit schwacher Stimme:
»Das ist ja unbequem und ungesund.« »O nein«, sagte der Maler zur
Verteidigung seines Fensters, »dadurch, daß es nicht aufgemacht werden
kann, wird, obwohl es nur eine einfache Scheibe ist, die Wärme hier besser
festgehalten als durch ein Doppelfenster. Will ich aber lüften, was nicht sehr
notwendig ist, da durch die Balkenritzen überall Luft eindringt, kann ich eine
meiner Türen oder sogar beide öffnen.« K., durch diese Erklärung ein wenig
getröstet, blickte herum, um die zweite Tür zu finden. Der Maler bemerkte
das und sagte: »Sie ist hinter Ihnen, ich mußte sie durch das Bett verstellen.«
Jetzt erst sah K. die kleine Tür in der Wand. »Es ist eben hier alles viel zu
klein für ein Atelier«, sagte der Maler, als wolle er einem Tadel K.s
zuvorkommen. »Ich mußte mich einrichten, so gut es ging. Das Bett vor der
Tür steht natürlich an einem sehr schlechten Platz. Der Richter zum Beispiel,
den ich jetzt male, kommt immer durch die Tür beim Bett, und ich habe ihm
auch einen Schlüssel von dieser Tür gegeben, damit er, auch wenn ich nicht
zu Hause bin, hier im Atelier auf mich warten kann. Nun kommt er aber
gewöhnlich früh am Morgen, während ich noch schlafe. Es reißt mich
natürlich immer aus dem tiefsten Schlaf, wenn sich neben dem Bett die Tür
öffnet. Sie würden jede Ehrfurcht vor den Richtern verlieren, wenn Sie die
Flüche hörten, mit denen ich ihn empfange, wenn er früh über mein Bett
steigt. Ich könnte ihm allerdings den Schlüssel wegnehmen, aber es würde
dadurch nur ärger werden. Man kann hier alle Türen mit der geringsten
Anstrengung aus den Angeln brechen.« Während dieser ganzen Rede
überlegte K., ob er den Rock ausziehen sollte, er sah aber schließlich ein, daß
er, wenn er es nicht tat, unfähig war, hier noch länger zu bleiben, er zog daher
den Rock aus, legte ihn aber über die Knie, um ihn, falls die Besprechung zu
Ende wäre, wieder anziehen zu können. Kaum hatte er den Rock ausgezogen,
rief eines der Mädchen: »Er hat schon den Rock ausgezogen!« und man hörte,
wie sich alle zu den Ritzen drängten, um das Schauspiel selbst zu sehen. »Die
Mädchen glauben nämlich«, sagte der Maler, »daß ich Sie malen werde und
daß Sie sich deshalb ausziehen.« »So«, sagte K., nur wenig belustigt, denn er
fühlte sich nicht viel besser als früher, obwohl er jetzt in Hemdärmeln dasaß.
Fast mürrisch fragte er: »Wie nannten Sie die zwei anderen Möglichkeiten?«
Er hatte die Ausdrücke schon wieder vergessen. »Die scheinbare
Freisprechung und die Verschleppung«, sagte der Maler. »Es liegt an Ihnen,
was Sie davon wählen. Beides ist durch meine Hilfe erreichbar, natürlich
nicht ohne Mühe, der Unterschied in dieser Hinsicht ist der, daß die
scheinbare Freisprechung eine gesammelte zeitweilige, die Verschleppung
eine viel geringere, aber dauernde Anstrengung verlangt. Zunächst also die
scheinbare Freisprechung. Wenn Sie diese wünschen sollten, schreibe ich auf
einem Bogen Papier eine Bestätigung Ihrer Unschuld auf. Der Text für eine
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Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155