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sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in so guter Verbindung
stehe, kann ich Ihnen auch sagen, wie sich in den Vorschriften für die
Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der wirklichen und der
scheinbaren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer wirklichen
Freisprechung sollen die Prozeßakten vollständig abgelegt werden, sie
verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die Anklage, auch der
Prozeß und sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist vernichtet. Anders
beim scheinbaren Freispruch. Mit dem Akt ist keine weitere Veränderung vor
sich gegangen, als daß er um die Bestätigung der Unschuld, um den
Freispruch und um die Begründung des Freispruchs bereichert worden ist. Im
übrigen aber bleibt er im Verfahren, er wird, wie es der ununterbrochene
Verkehr der Gerichtskanzleien erfordert, zu den höheren Gerichten
weitergeleitet, kommt zu den niedrigeren zurück und pendelt so mit größeren
und kleineren Schwingungen, mit größeren und kleineren Stockungen auf und
ab. Diese Wege sind unberechenbar. Von außen gesehen, kann es manchmal
den Anschein bekommen, daß alles längst vergessen, der Akt verloren und
der Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das nicht
glauben. Es geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines
Tages - niemand erwartet es - nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksamer
in die Hand, erkennt, daß in diesem Fall die Anklage noch lebendig ist, und
ordnet die sofortige Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß zwischen
dem scheinbaren Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange Zeit
vergeht, das ist möglich, und ich weiß von solchen Fällen, es ist aber
ebensogut möglich, daß der Freigesprochene vom Gericht nach Hause kommt
und dort schon Beauftragte warten, um ihn wieder zu verhaften. Dann ist
natürlich das freie Leben zu Ende.« »Und der Prozeß beginnt von neuem?«
fragte K. fast ungläubig. »Allerdings«, sagte der Maler, »der Prozeß beginnt
von neuem, es besteht aber wieder die Möglichkeit, ebenso wie früher, einen
scheinbaren Freispruch zu erwirken. Man muß wieder alle Kräfte
zusammennehmen und darf sich nicht ergeben.« Das letztere sagte der Maler
vielleicht unter dem Eindruck, den K., der ein wenig zusammengesunken war,
auf ihn machte. »Ist aber«, fragte K., als wolle er jetzt irgendwelchen
Enthüllungen des Malers zuvorkommen, »die Erwirkung eines zweiten
Freispruchs nicht schwieriger als die des ersten?« »Man kann«, antwortete der
Maler, »in dieser Hinsicht nichts Bestimmtes sagen. Sie meinen wohl, daß die
Richter durch die zweite Verhaftung in ihrem Urteil zuungunsten des
Angeklagten beeinflußt werden? Das ist nicht der Fall. Die Richter haben ja
schon beim Freispruch diese Verhaftung vorgesehen. Dieser Umstand wirkt
also kaum ein. Wohl aber kann aus zahllosen sonstigen Gründen die
Stimmung der Richter sowie ihre rechtliche Beurteilung des Falles eine
andere geworden sein, und die Bemühungen um den zweiten Freispruch
müssen daher den veränderten Umständen angepaßt werden und im
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155