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allgemeinen ebenso kräftig sein wie die vor dem ersten Freispruch.« »Aber
dieser zweite Freispruch ist doch wieder nicht endgültig«, sagte K. und drehte
abweisend den Kopf. »Natürlich nicht«, sagte der Maler, »dem zweiten
Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte
Verhaftung, und so fort. Das liegt schon im Begriff des scheinbaren
Freispruchs.« K. schwieg. »Der scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar
nicht vorteilhaft zu sein«, sagte der Maler, »vielleicht entspricht Ihnen die
Verschleppung besser. Soll ich Ihnen das Wesen der Verschleppung
erklären?« K. nickte. Der Maler hatte sich breit in seinen Sessel
zurückgelehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand
daruntergeschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich. »Die
Verschleppung«, sagte der Maler und sah einen Augenblick vor sich hin, als
suche er eine vollständig zutreffende Erklärung, »die Verschleppung besteht
darin, daß der Prozeß dauernd im niedrigsten Prozeßstadium erhalten wird.
Um dies zu erreichen, ist es nötig, daß der Angeklagte und der Helfer,
insbesondere aber der Helfer in ununterbrochener persönlicher Fühlung mit
dem Gericht bleibt. Ich wiederhole, es ist hierfür kein solcher Kraftaufwand
nötig wie bei der Erreichung eines scheinbaren Freispruchs, wohl aber ist eine
viel größere Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Prozeß nicht aus den
Augen verlieren, man muß zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen
Zwischenräumen und außerdem bei besonderen Gelegenheiten gehen und ihn
auf jede Weise sich freundlich zu erhalten suchen; ist man mit dem Richter
nicht persönlich bekannt, so muß man durch bekannte Richter ihn
beeinflussen lassen, ohne daß man etwa deshalb die unmittelbaren
Besprechungen aufgeben dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht nichts, so
kann man mit genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Prozeß über sein
erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Prozeß hört zwar nicht auf, aber der
Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er frei
wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den
Vorteil, daß die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er bleibt
vor dem Schrecken der plötzlichen Verhaftungen bewahrt und muß nicht
fürchten, etwa gerade zu Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafür am
wenigsten günstig sind, die Anstrengungen und Aufregungen auf sich nehmen
zu müssen, welche mit der Erreichung des scheinbaren Freispruchs verbunden
sind. Allerdings hat auch die Verschleppung für den Angeklagten gewisse
Nachteile, die man nicht unterschätzen darf. Ich denke hierbei nicht daran,
das hier der Angeklagte niemals frei ist, das ist er ja auch bei der scheinbaren
Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht. Es ist ein anderer Nachteil. Der
Prozeß kann nicht stillstehen, ohne daß wenigstens scheinbare Gründe dafür
vorliegen. Es muß deshalb im Prozeß nach außen hin etwas geschehen. Es
müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene Anordnungen getroffen werden,
der Angeklagte muß verhört werden, Untersuchungen müssen stattfinden und
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155