Seite - 122 - in Der Prozeß
Bild der Seite - 122 -
Text der Seite - 122 -
verwirrt zu sein, aber einer davon war auch der Anblick Ihrer Lippen. Er hat
später erzählt, er hätte auf Ihren Lippen auch das Zeichen seiner eigenen
Verurteilung zu sehen geglaubt.« »Meine Lippen?« fragte K., zog einen
Taschenspiegel hervor und sah sich an. »Ich kann an meinen Lippen nichts
Besonderes erkennen. Und Sie?« »Ich auch nicht«, sagte der Kaufmann,
»ganz und gar nicht.« »Wie abergläubisch diese Leute sind!« rief K. aus.
»Sagte ich es nicht?« fragte der Kaufmann. »Verkehren sie denn soviel
untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?« sagte K. »Ich habe
mich bisher ganz abseits gehalten.« »Im allgemeinen verkehren sie nicht
miteinander«, sagte der Kaufmann, »das wäre nicht möglich, es sind ja so
viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer
Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich
bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts
durchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste
Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner
erreicht manchmal etwas im geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es
die anderen; keiner weiß, wie es geschehen ist. Es gibt also keine
Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern
zusammen, aber dort wird wenig besprochen. Die abergläubischen
Meinungen bestehen schon seit alters her und vermehren sich förmlich von
selbst.« »Ich sah die Herren dort im Wartezimmer«, sagte K., »ihr Warten
kam mir so nutzlos vor.« »Das Warten ist nicht nutzlos«, sagte der Kaufmann,
»nutzlos ist nur das selbständige Eingreifen. Ich sagte schon, daß ich jetzt
außer diesem noch fünf Advokaten habe. Man sollte doch glauben - ich selbst
glaubte es zuerst -, jetzt könnte ich ihnen die Sache vollständig überlassen.
Das wäre aber ganz falsch. Ich kann sie ihnen weniger überlassen, als wenn
ich nur einen hätte. Sie verstehen das wohl nicht?« »Nein«, sagte K. und
legte, um den Kaufmann an seinem allzu schnellen Reden zu hindern, die
Hand beruhigend auf seine Hand, »ich möchte Sie nur bitten, ein wenig
langsamer zu reden, es sind doch lauter für mich sehr wichtige Dinge, und ich
kann Ihnen nicht recht folgen.« »Gut, daß Sie mich daran erinnern«, sagte der
Kaufmann, »Sie sind ja ein Neuer, ein Junger. Ihr Prozeß ist ein halbes Jahr
alt, nicht wahr? Ja, ich habe davon gehört. Ein so junger Prozeß! Ich aber
habe diese Dinge schon unzähligemal durchgedacht, sie sind mir das
Selbstverständlichste auf der Welt.« »Sie sind wohl froh, daß Ihr Prozeß
schon so weit fortgeschritten ist?« fragte K., er wollte nicht geradezu fragen,
wie die Angelegenheiten des Kaufmanns stünden. Er bekam aber auch keine
deutliche Antwort. »Ja, ich habe meinen Prozeß fünf Jahre lang fortgewälzt«,
sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, »es ist keine kleine Leistung.«
Dann schwieg er ein Weilchen. K. horchte, ob Leni nicht schon komme.
Einerseits wollte er nicht, daß sie komme, denn er hatte noch vieles zu fragen
und wollte auch nicht von Leni in diesem vertraulichen Gespräch mit dem
122
zurück zum
Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155