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ungestört besprechen. »Ja«, sagte Leni, »nicht jeder wird wie du, Josef, zu
beliebiger Stunde beim Advokaten vorgelassen. Du scheinst dich ja gar nicht
darüber zu wundern, daß dich der Advokat trotz seiner Krankheit noch um elf
Uhr nachts empfängt. Du nimmst das, was deine Freunde für dich tun, doch
als gar zu selbstverständlich an. Nun, deine Freunde, oder zumindest ich, tun
es gerne. Ich will keinen anderen Dank und brauche auch keinen anderen, als
daß du mich liebhast.« »Dich liebhaben?« dachte K. im ersten Augenblick,
erst dann ging es ihm durch den Kopf: »Nun ja, ich habe sie lieb.« Trotzdem
sagte er, alles andere vernachlässigend: »Er empfängt mich, weil ich sein
Klient bin. Wenn auch dafür noch fremde Hilfe nötig wäre, müßte man bei
jedem Schritt immer gleichzeitig betteln und danken.« »Wie schlimm er heute
ist, nicht?« fragte Leni den Kaufmann. »Jetzt bin ich der Abwesende«, dachte
K. und wurde fast sogar auf den Kaufmann böse, als dieser, die Unhöflichkeit
Lenis übernehmend, sagte: »Der Advokat empfängt ihn auch noch aus
anderen Gründen. Sein Fall ist nämlich interessanter als der meine. Außerdem
aber ist sein Prozeß in den Anfängen, also wahrscheinlich noch nicht sehr
verfahren, da beschäftigt sich der Advokat noch gern mit ihm. Später wird das
anders werden.« »Ja, ja«, sagte Leni und sah den Kaufmann lachend an, »wie
er schwatzt! Ihm darfst du nämlich«, hierbei wandte sie sich an K., »gar
nichts glauben. So lieb er ist, so geschwätzig ist er. Vielleicht mag ihn der
Advokat auch deshalb nicht leiden. Jedenfalls empfängt er ihn nur, wenn er in
Laune ist. Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, das zu ändern, aber es ist
unmöglich. Denke nur, manchmal melde ich Block an, er empfängt ihn aber
erst am dritten Tag nachher. Ist Block aber zu der Zeit, wenn er vorgerufen
wird, nicht zur Stelle, so ist alles verloren und er muß von neuem angemeldet
werden. Deshalb habe ich Block erlaubt, hier zu schlafen, es ist ja schon
vorgekommen, daß er in der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt ist also Block
auch in der Nacht bereit. Allerdings geschieht es jetzt wieder, daß der
Advokat, wenn es sich zeigt, daß Block da ist, seinen Auftrag, ihn
vorzulassen, manchmal widerruft.« K. sah fragend zum Kaufmann hin. Dieser
nickte und sagte, so offen wie er früher mit K. gesprochen hatte, vielleicht
war er zerstreut vor Beschämung: »Ja, man wird später sehr abhängig von
seinem Advokaten.« »Er klagt ja nur zum Schein«, sagte Leni. »Er schläft ja
hier sehr gern, wie er mir schon oft gestanden hat.« Sie ging zu einer kleinen
Tür und stieß sie auf. »Willst du sein Schlafzimmer sehen?« fragte sie. K.
ging hin und sah von der Schwelle aus in den niedrigen fensterlosen Raum,
der von einem schmalen Bett vollständig ausgefüllt war. In dieses Bett mußte
man über den Bettpfosten steigen. Am Kopfende des Bettes war eine
Vertiefung in der Mauer, dort standen, peinlich geordnet, eine Kerze,
Tintenfaß und Feder sowie ein Bündel Papiere, wahrscheinlich
Prozeßschriften. »Sie schlafen im Dienstmädchenzimmer?« fragte K. und
wendete sich zum Kaufmann zurück. »Leni hat es mir eingeräumt«,
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155