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und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf das Nachttischchen
gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. »Sie legen dem nicht viel
Bedeutung bei«, sagte der Advokat, als K. schwieg, »desto besser. Sonst hätte
ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen müssen. Es ist eine Sonderbarkeit
Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen habe und von der ich auch nicht
reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt die Tür abgesperrt hätten. Diese
Sonderbarkeit, Ihnen allerdings müßte ich sie wohl am wenigsten erklären,
aber Sie sehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es, diese Sonderbarkeit
besteht darin, daß Leni die meisten Angeklagten schön findet. Sie hängt sich
an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden; um
mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube, manchmal
davon. Ich bin über das Ganze nicht so erstaunt, wie Sie es zu sein scheinen.
Wenn man den richtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich
oft schön. Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen
naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als Folge der Anklage
nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung des Aussehens
ein. Es ist doch nicht wie bei anderen Gerichtssachen, die meisten bleiben in
ihrer gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie einen guten
Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Prozeß nicht behindert.
Trotzdem sind diejenigen, welche darin Erfahrung haben, imstande, aus der
größten Menge die Angeklagten, Mann für Mann, zu erkennen. Woran?
werden Sie fragen. Meine Antwort wird Sie nicht befriedigen. Die
Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht die Schuld sein, die sie
schön macht, denn - so muß wenigstens ich als Advokat sprechen - es sind
doch nicht alle schuldig, es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie
jetzt schon schön macht, denn es werden doch nicht alle bestraft, es kann also
nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie
anhaftet. Allerdings gibt es unter den Schönen auch besonders schöne. Schön
sind aber alle, selbst Block, dieser elende Wurm.«
K. war, als der Advokat geendet hatte, vollständig gefaßt, er hatte sogar zu
den letzten Worten auffallend genickt und sich so selbst die Bestätigung
seiner alten Ansicht gegeben, nach welcher der Advokat ihn immer und so
auch diesmal durch allgemeine Mitteilungen, die nicht zur Sache gehörten, zu
zerstreuen und von der Hauptfrage, was er an tatsächlicher Arbeit für K.s
Sache getan hatte, abzulenken suchte. Der Advokat merkte wohl, daß ihm K.
diesmal mehr Widerstand leistete als sonst, denn er verstummte jetzt, um K.
die Möglichkeit zu geben, selbst zu sprechen, und fragte dann, da K. stumm
blieb: »Sind Sie heute mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen?«
»Ja«, sagte K. und blendete mit der Hand ein wenig die Kerze ab, um den
Advokaten besser zu sehen, »ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihnen mit dem
heutigen Tage meine Vertretung entziehe.« »Verstehe ich Sie recht?« fragte
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155