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Zeit, seitdem Sie mich vertreten. Als ich allein war, unternahm ich nichts in
meiner Sache, aber ich fühlte es kaum, jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter,
alles war dafür eingerichtet, daß etwas geschehe, unaufhörlich und immer
gespannter erwartete ich Ihr Eingreifen, aber es blieb aus. Ich bekam von
Ihnen allerdings verschiedene Mitteilungen über das Gericht, die ich
vielleicht von niemandem sonst hätte bekommen können. Aber das kann mir
nicht genügen, wenn mir jetzt der Prozeß, förmlich im geheimen, immer
näher an den Leib rückt.« K. hatte den Sessel von sich gestoßen und stand, die
Hände in den Rocktaschen, aufrecht da. »Von einem gewissen Zeitpunkt der
Praxis an«, sagte der Advokat leise und ruhig, »ereignet sich nichts
wesentlich Neues mehr. Wie viele Parteien sind in ähnlichen Stachen der
Prozesse ähnlich wie Sie vor mir gestanden und haben ähnlich gesprochen!«
»Dann haben«, sagte K., »alle diese ähnlichen Parteien ebenso recht gehabt
wie ich. Das widerlegt mich gar nicht.« »Ich wollte Sie damit nicht
widerlegen«, sagte der Advokat, »ich wollte aber noch hinzufügen, daß ich
bei Ihnen mehr Urteilskraft erwartet hätte als bei den anderen, besonders da
ich Ihnen mehr Einblick in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben
habe, als ich es sonst Parteien gegenüber tue. Und nun muß ich sehen, daß Sie
trotz allem nicht genügend Vertrauen zu mir haben. Sie machen es mir nicht
leicht.« Wie sich der Advokat vor K. demütigte! Ohne jede Rücksicht auf die
Standesehre, die gewiß gerade in diesem Punkte am empfindlichsten ist. Und
warum tat er das? Er war doch dem Anschein nach ein vielbeschäftigter
Advokat und überdies ein reicher Mann, es konnte ihm an und für sich weder
an dem Verdienstentgang noch an dem Verlust eines Klienten viel liegen.
Außerdem war er kränklich und hätte selbst darauf bedacht sein sollen, daß
ihm Arbeit abgenommen werde. Und trotzdem hielt er K. so fest! Warum?
War es persönliche Anteilnahme für den Onkel oder sah er K.s Prozeß
wirklich für so außerordentlich an und hoffte, sich darin auszuzeichnen,
entweder für K. oder - diese Möglichkeit war eben niemals auszuschließen -
für die Freunde beim Gericht? An ihm selbst war nichts zu erkennen, so
rücksichtslos prüfend ihn auch K. ansah. Man hätte fast annehmen können, er
warte mit absichtlich verschlossener Miene die Wirkung seiner Worte ab.
Aber er deutete offenbar das Schweigen K.s für sich allzu günstig, wenn er
jetzt fortfuhr: »Sie werden bemerkt haben, daß ich zwar eine große Kanzlei
habe, aber keine Hilfskräfte beschäftige. Das war früher anders, es gab eine
Zeit, wo einige junge Juristen für mich arbeiteten, heute arbeite ich allein. Es
hängt dies zum Teil mit der Änderung meiner Praxis zusammen, indem ich
mich immer mehr auf Rechtssachen von der Art der Ihrigen beschränke, zum
Teil mit der immer tieferen Erkenntnis, die ich von diesen Rechtssachen
erhielt. Ich fand, daß ich diese Arbeit niemandem überlassen dürfe, wenn ich
mich nicht an meinen Klienten und an der Aufgabe, die ich übernommen
hatte, versündigen wollte. Der Entschluß aber, alle Arbeit selbst zu leisten,
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155