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günstig?« fragte Leni. »Wie ist das möglich?« Block sah sie mit einem so
gespannten Blick an, als traue er ihr die Fähigkeit zu, jetzt noch die längst
ausgesprochenen Worte des Richters zu seinen Gunsten zu wenden. »Nicht
günstig«, sagte der Advokat. »Er war sogar unangenehm berührt, als ich von
Block zu sprechen anfing. ›Reden Sie nicht von Block‹, sagte er. ›Er ist mein
Klient‹, sagte ich. ›Sie lassen sich mißbrauchen‹, sagte er. ›Ich halte seine
Sache nicht für verloren‹, sagte ich. ›Sie lassen sich mißbrauchen‹
wiederholte er. ›Ich glaube es nicht‹, sagte ich. ›Block ist im Prozeß fleißig
und immer hinter seiner Sache her. Er wohnt fast bei mir, um immer auf dem
laufenden zu sein. Solchen Eifer findet man nicht immer. Gewiß, er ist
persönlich nicht angenehm, hat häßliche Umgangsformen und ist schmutzig,
aber in prozessualer Hinsicht ist er untadelhaft.‹ Ich sagte untadelhaft, ich
übertrieb absichtlich. Darauf sagte er: ›Block ist bloß schlau. Er hat viel
Erfahrung angesammelt und versteht es, den Prozeß zu verschleppen. Aber
seine Unwissenheit ist noch viel größer als seine Schlauheit. Was würde er
wohl dazu sagen, wenn er erführe, daß sein Prozeß noch gar nicht begonnen
hat, wenn man ihm sagte, daß noch nicht einmal das Glockenzeichen zum
Beginn des Prozesses gegeben ist.‹ Ruhig, Block«, sagte der Advokat, denn
Block begann sich gerade auf unsicheren Knien zu erheben und wollte
offenbar um Aufklärung bitten. Es war jetzt das erstemal, daß sich der
Advokat mit ausführlicheren Worten geradezu an Block wendete. Mit müden
Augen sah er halb ziellos, halb zu Block hinunter, der unter diesem Blick
wieder langsam in die Knie zurücksank. »Diese Äußerung des Richters hat
für dich gar keine Bedeutung«, sagte der Advokat. »Erschrick doch nicht bei
jedem Wort. Wenn sich das wiederholt, werde ich dir gar nichts mehr
verraten. Man kann keinen Satz beginnen, ohne daß du einen anschaust, als
ob jetzt dein Endurteil käme. Schäme dich hier vor meinem Klienten! Auch
erschütterst du das Vertrauen, das er in mich setzt. Was willst du denn? Noch
lebst du, noch stehst du unter meinem Schutz. Sinnlose Angst! Du hast
irgendwo gelesen, daß das Endurteil in manchen Fällen unversehens komme,
aus beliebigem Munde, zu beliebiger Zeit. Mit vielen Vorbehalten ist das
allerdings wahr, ebenso wahr aber ist es, daß mich deine Angst anwidert und
daß ich darin einen Mangel des notwendigen Vertrauens sehe. Was habe ich
denn gesagt? Ich habe die Äußerung eines Richters wiedergegeben. Du weißt,
die verschiedenen Ansichten häufen sich um das Verfahren bis zur
Undurchdringlichkeit. Dieser Richter zum Beispiel nimmt den Anfang des
Verfahrens zu einem anderen Zeitpunkt an als ich. Ein Meinungsunterschied,
nichts weiter. In einem gewissen Stadium des Prozesses wird nach altem
Brauch ein Glockenzeichen gegeben. Nach der Ansicht dieses Richters
beginnt damit der Prozeß. Ich kann dir jetzt nicht alles sagen, was dagegen
spricht, du würdest es auch nicht verstehen, es genüge dir, daß viel dagegen
spricht.« Verlegen fuhr Block unten mit den Fingern durch das Fell des
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155