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beginnen? War vielleicht der Kirchendiener doch nicht so ganz vom Verstand
verlassen und hatte K. dem Prediger zutreiben wollen, was allerdings in der
leeren Kirche äußerst notwendig gewesen war? Übrigens gab es ja noch
irgendwo vor einem Marienbild ein altes Weib, das auch hätte kommen
sollen. Und wenn es schon eine Predigt sein sollte, warum wurde sie nicht
von der Orgel eingeleitet? Aber die blieb still und blinkte nur schwach aus der
Finsternis ihrer großen Höhe.
K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es
jetzt nicht tat, war keine Aussicht, daß er es während der Predigt tun könnte,
er mußte dann bleiben, solange sie dauerte, im Büro verlor er soviel Zeit, auf
den Italiener zu warten, war er längst nicht mehr verpflichtet, er sah auf seine
Uhr, es war elf. Aber konnte denn wirklich gepredigt werden? Konnte K.
allein die Gemeinde darstellen? Wie, wenn er ein Fremder gewesen wäre, der
nur die Kirche besichtigen wollte? Im Grunde war er auch nichts anderes. Es
war unsinnig, daran zu denken, daß gepredigt werden sollte, jetzt um elf Uhr,
an einem Werktag, bei gräßlichstem Wetter. Der Geistliche - ein Geistlicher
war es zweifellos, ein junger Mann mit glattem, dunklem Gesicht - ging
offenbar nur hinauf, um die Lampe zu löschen, die irrtümlich angezündet
worden war.
Es war aber nicht so, der Geistliche prüfte vielmehr das Licht und
schraubte es noch ein wenig auf, dann drehte er sich langsam der Brüstung zu,
die er vorn an der kantigen Einfassung mit beiden Händen erfaßte. So stand er
eine Zeitlang und blickte, ohne den Kopf zu rühren, umher. K. war ein großes
Stück zurückgewichen und lehnte mit den Ellbogen an der vordersten
Kirchenbank. Mit unsicheren Augen sah er irgendwo, ohne den Ort genau zu
bestimmen, den Kirchendiener, mit krummem Rücken, friedlich, wie nach
beendeter Aufgabe, sich zusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt
im Dom! Aber K. mußte sie stören, er hatte nicht die Absicht, hierzubleiben;
wenn es die Pflicht des Geistlichen war, zu einer bestimmten Stunde, ohne
Rücksicht auf die Umstände, zu predigen, so mochte er es tun, es würde auch
ohne K.s Beistand gelingen, ebenso wie die Anwesenheit K.s die Wirkung
gewiß nicht steigern würde. Langsam setzte sich also K. in Gang, tastete sich
auf den Fußspitzen an der Bank hin, kam dann in den breiten Hauptweg und
ging dort ganz ungestört, nur daß der steinerne Boden unter dem leisesten
Schritt erklang und die Wölbungen schwach, aber ununterbrochen, in
vielfachem, gesetzmäßigem Fortschreiten davon widerhallten. K. fühlte sich
ein wenig verlassen, als er dort, vom Geistlichen vielleicht beobachtet,
zwischen den leeren Bänken allein hindurchging, auch schien ihm die Größe
des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch Erträglichen zu
liegen. Als er zu seinem früheren Platz kam, haschte er förmlich, ohne
weiteren Aufenthalt, nach dem dort liegengelassenen Album und nahm es an
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Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155