Seite - 148 - in Der Prozeß
Bild der Seite - 148 -
Text der Seite - 148 -
jemanden fallen sieht und, weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne
Willen schreit.
Nun schwiegen beide lange. Gewiß konnte der Geistliche in dem Dunkel,
das unten herrschte, K. nicht genau erkennen, während K. den Geistlichen im
Licht der kleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistliche nicht
herunter? Eine Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K. nur einige
Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn er sie genau beachtete, wahrscheinlich
mehr schaden als nützen würden. Wohl aber schien K. die gute Absicht des
Geistlichen zweifellos zu sein, es war nicht unmöglich, daß er sich mit ihm,
wenn er herunterkäme, einigen würde, es war nicht unmöglich, daß er von
ihm einen entscheidenden und annehmbaren Rat bekäme, der ihm zum
Beispiel zeigen würde, nicht etwa wie der Prozeß zu beeinflussen war,
sondern wie man aus dem Prozeß ausbrechen, wie man ihn umgehen, wie
man außerhalb des Prozesses leben könnte. Diese Möglichkeit mußte
bestehen, K. hatte in der letzten Zeit öfters an sie gedacht. Wußte aber der
Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie vielleicht, wenn man ihn
darum bat, verraten, obwohl er selbst zum Gerichte gehörte und obwohl er,
als K. das Gericht angegriffen hatte, sein sanftes Wesen unterdrückt und K.
sogar angeschrien hatte.
»Willst du nicht herunterkommen?« sagte K. »Es ist doch keine Predigt zu
halten. Komm zu mir herunter.« »Jetzt kann ich schon kommen«, sagte der
Geistliche, er bereute vielleicht sein Schreien. Während er die Lampe von
ihrem Haken löste, sagte er: »Ich mußte zuerst aus der Entfernung mit dir
sprechen. Ich lasse mich sonst zu leicht beeinflussen und vergesse meinen
Dienst.«
K. erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistliche streckte ihm schon
von einer oberen Stufe im Hinuntergehen die Hand entgegen. »Hast du ein
wenig Zeit für mich?« fragte K. »Soviel Zeit, als du brauchst«, sagte der
Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der
Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. »Du bist
sehr freundlich zu mir«, sagte K., sie gingen nebeneinander im dunklen
Seitenschiff auf und ab. »Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht
gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgend jemandem von ihnen,
so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden.« »Täusche dich
nicht«, sagte der Geistliche. »Worin sollte ich mich denn täuschen?« fragte K.
»In dem Gericht täuschst du dich«, sagte der Geistliche, »in den einleitenden
Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht
ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um
Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt
nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später
148
zurück zum
Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155