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eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann.
Unter den Laternen versuchte K. öfters, so schwer es bei diesem engen
Aneinander ausgeführt werden konnte, seine Begleiter deutlicher zu sehen, als
es in der Dämmerung seines Zimmers möglich gewesen war. »Vielleicht sind
es Tenöre«, dachte er im Anblick ihres schweren Doppelkinns. Er ekelte sich
vor der Reinlichkeit ihrer Gesichter. Man sah förmlich noch die säubernde
Hand, die in ihre Augenwinkel gefahren, die ihre Oberlippe gerieben, die die
Falten am Kinn ausgekratzt hatte.
Als K. das bemerkte, blieb er stehen, infolgedessen blieben auch die andern
stehen; sie waren am Rand eines freien, menschenleeren, mit Anlagen
geschmückten Platzes. »Warum hat man gerade Sie geschickt!« rief er mehr,
als er fragte. Die Herren wußten scheinbar keine Antwort, sie warteten mit
dem hängenden, freien Arm, wie Krankenwärter, wenn der Kranke sich
ausruhen will. »Ich gehe nicht weiter«, sagte K. versuchsweise. Darauf
brauchten die Herren nicht zu antworten, es genügte, daß sie den Griff nicht
lockerten und K. von der Stelle wegzuheben versuchten, aber K. widerstand.
»Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt alle anwenden«,
dachte er. Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden Beinchen von der
Leimrute wegstrebten. »Die Herren werden schwere Arbeit haben.«
Da stieg vor ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse auf einer kleinen
Treppe Fräulein Bürstner zum Platz empor. Es war nicht ganz sicher, ob sie es
war, die Ähnlichkeit war freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es
bestimmt Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes
kam ihm gleich zum Bewußtsein. Es war nichts Heldenhaftes, wenn er
widerstand, wenn er jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt
in der Abwehr noch den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte. Er
setzte sich in Gang, und von der Freude, die er dadurch den Herren machte,
ging noch etwas auf ihn selbst über. Sie duldeten es jetzt, daß er die
Wegrichtung bestimmte, und er bestimmte sie nach dem Weg, den das
Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa, weil er sie einholen, nicht etwa, weil er
sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur deshalb, um die Mahnung, die
sie für ihn bedeutete, nicht zu vergessen. »Das einzige, was ich jetzt tun
kann«, sagte er sich, und das Gleichmaß seiner Schritte und der Schritte der
beiden anderen bestätigte seine Gedanken, »das einzige, was ich jetzt tun
kann, ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten. Ich wollte
immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem
nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig. Soll ich nun zeigen, daß nicht
einmal der einjährige Prozeß mich belehren konnte? Soll ich als ein
begriffsstutziger Mensch abgehen? Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich
am Anfang des Prozesses ihn beenden wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155