Seite - 92 - in Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte
Bild der Seite - 92 -
Text der Seite - 92 -
OpenAccess © 2019byBÖHLAUVERLAGGMBH&CO.KG,WIENKÖLNWEIMAR
92 GLAUBE UND ABERGLAUBE
Richtet sich die satirische Spitze dieser musikalischen Scherze gegen den inadäquaten
Umgangmit liturgischenTexten,ohnefreilichdieseselbst inFragezustellen,sozieltdie
Kritik in Buchers wohl bekanntestem Werk dezidiert gegen den Ritus selbst. In seinem
EntwurfeinerländlichenCharfreytagsprocession(1782)bemühtsichderbereitserwähnte
einfältige Pater Umgang` trotz eines entsprechenden landesherrlichen Verbots um die
AbhaltungdesKarfreitagsumzugsinderalthergebrachtenForm,daihndasVolkungern
missenwollte:
AlleHerrgott,undGaisler,undKreutzzieherseyndabg'schaft inderCharfreytag-Proceßion.Der
laidige hölzerne Hergott in der Rast allein dörf noch herumgetragen werden; die Lebendige sind
alle SumaSumarumalleabg'schaft, völligabg'schaft.128
Verbote dieser Art hatten tatsächlich für erhebliche Kontroversen gesorgt, da sie nicht
nur einen harschen Eingriff in das glaubensmotivierte Brauchtum bedeuteten, sondern
auch in viele mit kirchlichen Feierlichkeiten verknüpfte säkulare Traditionen. Dass an
christliche Anlässe anknüpfende Zusammenkünfte, Festlichkeiten und Aufzüge ein ge-
wisses Potential zur Einbindung profaner Lustbarkeiten bergen, ist heute noch ebenso
nachvollziehbar wie das Missfallen aufklärerischer Köpfe an der Verzerrung geistlichen
Gehalts durch Volksfeststimmung, gewerbliche Vorteilnahme und scheinheilige Selbst-
gefälligkeiten. Völlig uneinsichtig zeigt sich der Pater Umgang`, der eine in seinen Au-
gen idealtypische, realiter durch und durch lächerliche Melange aus den Höhepunkten
aller Prozessionen der umliegenden Orte beschreibt, um dadurch die Obrigkeit wieder
umzustimmen. Bei aller possenhaften Überzeichnung gibt der katholische Aufklärer
Bucher dabei ein ebenso aufschlussreiches wie detailliertes Bild der vielfältigen Um-
zugsbräuche:penibelgeregelteSchaustellungenmitabsurdüberzeichneterEmblematik,
demonstrative Berufsstandsrepräsentationen, gespielte Trivialszenen aus der Heilsge-
schichte, Passionslieder und vieles mehr, das vielfach seine Komik durch eine deplat-
ziertekonzeptionelleMündlichkeiterhält.
InseinerSeraphischenJagdlust (1784)agitiertBuchergegendasAblassunwesen al-
lerdingsarglistigerweiseunterdemNamendesKapuzinerpriestersMartinvonCochem
(1634 1712), der als Autor zahlreicher weitverbreiteter religiöser Erbauungsschriften
bekannt, später aber wegen seiner simplen Darstellungen Ziel vielfältiger Kritik gewor-
den war. Sein Name ist Symbol einer scheinheiligen Volksfrömmigkeit, die am Beispiel
des sogenannten Portiunkula-Ablasses aufs Korn genommen wird. Dieser konnte am
2. August oder am darauf folgenden Sonntag als vollkommener Ablass für einen selbst
wieauchfürandereerlangtwerdenundgabgelegenenAnlassfürvolksfestartigeZusam-
menkünfte,derenBesucherundgeschäftstüchtigeNutznießerimzweiten
Traktätlein` zu
WortkommenundeinebizarreVorstellungsweltvomSinnoderUnsinndesGnadenakts
offenbaren:
128 Bucher,Charfreytagsprocession,S. [5]f.
zurück zum
Buch Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte"
Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Titel
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Untertitel
- Eine andere Literaturgeschichte
- Autoren
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 652
- Schlagwörter
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen