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7 KÖRPER UND SINNLICHKEIT
Als wesentliches ästhetisches Mittel konzeptioneller Mündlichkeit ist der Dialekt prä-
destiniert, Intimität auszudrücken und somit auch jene Dinge anzusprechen, die der
normativeAufklärungsdiskursausderLiteraturzueliminierenversuchte.Dennobwohl
die aufkommende Anthropologie im 18. Jahrhundert das Wissen über den Menschen
und seine psychischen und physischen Funktionen in den Mittelpunkt des Erkenntni-
sinteresses rückte, tat man sich schwer, allzu betonte Sinnlichkeit und Kreatürlichkeit
als imaginative Kompensate in einer Schriftkultur zu akzeptieren.1 Erst nach 1800 wird
diepostulierteHarmonievonKörperundSeele immerdeutlicheralsUtopiedekuvriert,
die einen realistischen Blick auf die tatsächlichen Erscheinungsformen des Menschli-
chen blockiert. Hatte man mit der Darstellung von Brutalität weniger Hemmungen,
waren Körperlichkeit, Anzüglichkeiten und ausschweifender Sinnesgenuss allenfalls in
toposgeschichtlich gerechtfertigter mythologischer Einkleidung und Tradition akzepta-
bel. In der ngierten Mündlichkeit der Dialektliteratur allerdings hatte das Nichtauf-
schreibbare oder Nichtaufschreibenswerte stets ein Refugium. Ihre implizite Logik des
Transitorischen, des üchtigen Worts, entzog sich dem Anspruch des Bewahrens- und
Verbreitenswerten,denLiteralisierungvermittelt,undstelltesomiteinVentildarfürden
Druck, der sich mit den Lern- und Transformationsprozessen der Sozialdisziplinierung
in der Frühen Neuzeit stetig steigerte.2 Verstärkt durch die soziolektale Stigmatisie-
rungderProtagonistenalsebenjenen,diesichdemProjektbürgerlicherErziehungund
Selbstoptimierung auch sprachlich verweigerten, war hier ein ästhetischer Gegenraum
gegeben, in dem das Tabuisierte, Abstoßende und Obszöne seinen gleichsam moment-
haften` Ausdruck ndenkonnte.AlsobrigkeitlichgeahndeterVerstoßgegenGeschmack
undSittenderjeweiligenZeitbliebenfreilichwenigüberraschendnurmarginaleBruch-
stücke dieser als minderwertig und anstößig erachteten
Gegenkunst` in authentischen
Quellen schriftlich erhalten. Auch in der Forschung fanden diese Dichtungen als apo-
kryphe`, nicht anerkannte Volkskunst in weiterer Folge nur wenig Beachtung; erst die
mutigenArbeitenvonFriedrichS.Krauß,EmilKarlBlümmloderGustavGugitzzuBe-
ginn des 20. Jahrhunderts präsentierten das Material für ein realistischeres, ideologisch
unverfälschtesGesamtbildderVolksdichtung.3
EinezentraleDomänedesDialektalenwardieVerbalisierungdesKreatürlich-Trieb-
haften, das in der nähesprachlichen Formulierung die Pädagogisierungs- und Ratio-
1 GrundsätzlichdazuWolfgangIser:DasFiktiveunddasImaginäre.Perspektiven literarischerAnthropolo-
gie.Frankfurta.M.:Suhrkamp1992. HansJürgenSchings(Hg.):DerganzeMensch.Anthropologieund
Literatur im18. Jahrhundert.DFG-Symposion.Stuttgart,Weimar:Metzler1994.
2 Vgl. Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff der Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit`. In:
Zeitschrift fürHistorischeForschung14(1987),S.287 317.
3 Vgl. dazu u.a. Rolf Wilhelm Brednich: Erotisches Lied. In: Rolf Wilhelm Brednich/Lutz Röhrich/Wolf-
gang Suppan (Hg.): Handbuch des Volksliedes. Bd. I: Die Gattungen des Volksliedes. München: Finke
1973,S.575 615.
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Buch Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte"
Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Titel
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Untertitel
- Eine andere Literaturgeschichte
- Autoren
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 652
- Schlagwörter
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen