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KREATÜRLICHES, KRANKHAFTES UND DER REIZ DES EKELHAFTEN 475
isteinDauerbrenneraufdenBühnenundStoff fürFrauen-undMännerschelten inun-
zähligenVariationen.
Kreatürliches,KrankhaftesundderReizdesEkelhaften
Das lange`18. Jahrhundertmitseiner tiefgreifendenNeumodellierungdesgesellschaft-
lichen Miteinanders gilt als eine der prägendsten Epochen für Verhaltensweisen und
SelbstverständnisdeswestlichenMenschen.DieineinandergreifendenProzessederDis-
ziplinierung, Pädagogisierung und Rationalisierung, die das öffentliche und private Le-
ben in Europa determinierten, schufen verbindliche Vorstellungen davon, wie sich der
angepassteUntertanimfrühmodernenenStaatzuverhaltenhabe.6 Diementalitäts-und
identitätsgeschichtliche Überformung kultureller und sozialer Heterogenität bedingte
allerdings, dass elementare Bedürfnisse des Individuums durch Fremd- und Selbstkon-
trolle immer stärker unterdrückt werden mussten. Die Teilhabe an einer zivilisierten`
Gesellschaft setzte Selbst- und Körperbeherrschung ebenso voraus wie Affektkontrolle
und Hygienebewusstsein; in direkter Folge weiteten sich die Grenzen des Scham- und
Ekelgefühls erheblich. Und diese Grenzen mussten auch sprachlich, zumal im öffentli-
chenDiskurs, eingehaltenwerden.
So groß der Anpassungsdruck aber auch war, bot Literatur immer wieder Gele-
genheit, im Fiktionalen gesellschaftliche Bruchlinien aufzuzeigen, wo das Verdrängte,
Verbotene, Unterdrückte wieder zum Vorschein kam. Zumal in der Lachkultur kamen
solche Freiräume zur Geltung, in denen die repressive Macht der Disziplinierungsdis-
kurse für den Moment der ästhetischen Erfahrung keine Wirkung zeigte und das Ab-
stoßende als Komisches zu einem provozierenden Gelächter gegen den Normierungs-
druck anregen konnte.7 Bevorzugt wurden dafür Gattungen, die das Anomale, In-sich-
Widersprüchliche, Ambivalente, Inkommensurable wirkungsvoll und situations exibel
herausarbeiten konnten. Dialektale, für die mündliche Verbreitung konzipierte Lieder
warenbesondersbeliebt,entzogensiesichdochebensowiedieExtemporesder lustigen
Figuren leichter dem Zugriff der Zensurinstanzen, die sich im Verlauf des 18. Jahr-
hunderts immer gezielter auch auf Unterhaltungskunst konzentrierten. Im mündlichen
Vortrag konnte Leiblichkeit noch vergleichsweise frei ausgelebt werden; hier vermochte
das Sprechen über unmäßiges Fressen und Saufen, hemmungsloses Ausscheiden, zü-
gellose Triebbefriedigung und groteske Tabubrüche das rigide sozialmoralische Korsett
zumindest füreinenkurzenMomentzusprengenunddemdiszipliniertenKörperseine
verloreneFreiheitzumindest fürdieDauerdeskünstlerischenErlebnisseszurückerstat-
6 Vgl. u.a. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Unter-
suchungen. Bd.1 2. 14.Au . Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit.
ÜbersetztvonCarolineNeubaurundKarinKersten.12.Au .München:dtv1996. MichelFoucault:Dis-
positivederMacht:ÜberSexualität,WissenundWahrheit.Berlin:Merve2008.
7 Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a.M.: Fi-
scher1990.
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Buch Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800 - Eine andere Literaturgeschichte"
Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Titel
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Untertitel
- Eine andere Literaturgeschichte
- Autoren
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 652
- Schlagwörter
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen