Seite - 112 - in Dinge – Nutzer – Netze - Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
Bild der Seite - 112 -
Text der Seite - 112 -
112 | Dinge – Nutzer – Netze
Jeder dieser Artikel ist hier doppelt sinnvoll: einmal für sich genommen als Sachtext
über sein jeweiliges Thema, zugleich aber auch als Element einer assoziativen Kette.
Und diese Kette ist wiederum abermals doppelt kontingent: Sie kontextualisiert jedes
einzelne ihrer Glieder in Bezug auf jedes andere, zugleich aber reflektiert sie auch
die Verlaufsgeschichte der Evolution einer Interessenlage. Die Navigation selbst
ließe sich entsprechend ohne weiteres als eine Abfolge von Entscheidungssituationen
narrativieren. Die Connectedness gewährleistet, dass jeder einzelne Textbaustein al-
lermindestens mit dem ihm vorausgegangenen in direktem Zusammenhang steht und
dementsprechend die Sinnhaftigkeit der Navigation zu keinem Zeitpunk abreißt. Im
obenstehenden Beispiel ist die Assoziationsabfolge schon auf den ersten Blick relativ
schlüssig und auch ohne besonderes Expertenwissen zu verstehen. Schauen wir uns
im Gegensatz dazu nun das folgende Beispiel an:
Napoleon Bonaparte → Arthur Wellesley (1st Duke of Wellington) → Gummistiefel
→ Chloropren-Kautschuk → Tauchanzug10
Die Connectedness äußert sich hier folgendermaßen: Napoleon Bonaparte verlor am
18. Juni 1815 die Schlacht bei Waterloo gegen den Herzog von Wellington. Auf die-
sen geht auch ein bestimmtes Schnittmuster für Militärstiefel zurück, welches heute
überwiegend für die Herstellung einer in Großbritannien populären Form von Gum-
mistiefeln verwendet wird. Hochwertige Gummistiefel wiederum werden heutzutage
oft aus Chloropren-Kautschuk hergestellt, der umgangssprachlich besser unter der
Bezeichnung ›Neopren‹ bekannt und seinerseits das übliche Material für die Ferti-
gung von Tauchanzügen ist. Die topologische Beschaffenheit Wikipedias erlaubt es
uns also, eine völlig kontingente Assoziationskette vom Kaiser der Franzosen zu zeit-
genössischer Sportbekleidung zu ziehen, die kein bisschen weniger valide ist als jene,
die Deutschland mit dem Militarismus verbindet.
Uwe Wirth betrachtet angesichts solch extremer Beispiele von assoziativer Text-
navigation nicht etwa die Kontinuität des Lesevorgangs als das Kernmerkmal der
Rezeption von Internet-Texten, sondern vielmehr die Unterbrechung: Links lassen
nach seinem Dafürhalten eben nicht separate Texte zu einem verschmelzen, sondern
vielmehr den Leser ständig aus dem vorigen heraus- und in den folgenden hinein-
springen. Hypertextleser werden seiner Deutung zufolge laufend aus dem narrativen
Strom der individuellen Textone herausgerissen (vgl. Wirth 1997: 319). Damit ver-
wischt das Innen und Außen einzelner Texte − während der Einband physischer Bü-
cher stets auch eine scharfe »Grenze zwischen Text und Kontext« zieht (ebd.: 324),
löst sich die ganze literarische Kategorie des Einzelwerkes im Netz auf und macht
damit eine Form des Lesens erforderlich, die einen krassen Gegensatz zur klassi-
schen, ästhetisch orientierten Textrezeption bildet.
10 S.o.
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien