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zu sein, indem sie oft über die ihr festgesetzten Grenzen hinüber-
greift. Der bedeutendste Philospph der Neuzeit, Immanuel Kant,
wies, nachdem er mit unvergleichlichem Scharfsinne die gesammte
Thätigkeit des menschlichen Geistes durchforscht hatte, nach, dass
die Thätigkeit der Vernunft durchaus nur regulativ, keineswegs
aber konstitutiv oder schöpferisch im engern Sinne ist, dass wir
nur die Erscheinungen der Dinge (Phaenomena) wahrnehmen,
während ihre innere Beschaffenheit, ihr Wesen an sich (Noumenon)
uns ein Geheimniss bleibt; und nachdem er auf diese Weise alle
Attribute des Geistes analysirt hatte, fand er in ihm ausser der
Vernunft und dem Willen auch ein wichtiges, besonderes und eigen-
artiges Element, welches er den „kategorischen Imperativ'4 nannte,
d. i. das Gefühl der Pflicht, als Grundlage der gesammten mora-
lischen Existenz des Menschen. Damit öffnete sich der Weg zu
allem, was im Geiste und in den Zielen des Menschen erhaben
und wahrhaft göttlich ist. In neuerer Zeit gewinnt jedoch die Lehre
des Pantheismus und Materialismus an Ausbreitung, eine Doktrin,
welche alles wegleugnet, was die blosse Vernunft nicht begreift,
und weder von einer persönlichen Existenz Gottes noch von einem
moralischen Berufe der Menschheit etwas wissen will. Während
die alte Lehre den Menschen zur Göttlichkeit zu erheben bemüht
war, treibt ihn diese Schule geradezu in die Bestialität. Absoluter
Egoismus ist ihr einziges Ziel, ihre einzige Realität. Sittlicher
Adel, Pflichtgefühl, Selbstverleugnung und in Glaube, Hoffnung
und Liebe basirende Opferwilligkeit werden für Thorheit gehalten;
die Sehnsucht nach dem Idealen (nach den Worten Christi:
„nach dem Reiche Gottes") gilt für thörichte Schwärmerei; die
einzige Richtschnur, das einzige Muster der Thätigkeit sind „edle
Raubthiertriebe," sonach Eigennutz, Wachsamkeit, Hinterlist und
Gewalt. Leider kann man nicht in Abrede stellen, dass das von
unsern siegreichen Nachbarn sowohl theoretisch als praktisch ge-
predigte Losungswort „Macht geht vor Recht" (la force prime le
droit) in unsern Tagen in immer weitern Kreisen Anklang findet
und Europa nicht allein wieder in die Barbarei zurückzuwerfen,
sondern auch binnen Kurzem mit einem nie gesehenen Blutmeere
zu überschwemmen droht.
Mich werden jedoch auch moderne Tschingischane und Ta-
merlane nicht von dem dauernden Gedeihen ihres höllischen Werkes
überzeugen können; dieses wird eben dorthin gelangen, wohin das
Werk ihrer Vorgänger gerathen ist, und nur der Fluch der Nationen
wird es vor der Vergessenheit bewahren. Diese meine Hoffnung
gründe ich auf das aus der Weltgeschichte resultirende Zeugniss
von dem Fortschritt des menschlichen Geistes; den Funken der
Göttlichkeit, der in denselben versenkt wurde, kann keine wie
iiffmer geartete Macht zur Gänze ersticken und vernichten; im
Gegentheile, je eifriger die Gottlosen sich darum bemühen werden,
ugi so lebhafter wird er das Dunkel unseres Zeitalters und künf-
tiger Zeiten erhellen. Allerdings ist es nothwendig, dass die Mehrzahl
der gutgesinnten Menschen die Hände nicht in den Schoss lege;
Thätigkeit thut Noth und ein Kampf des Lichtes wider die Fin-
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Buch Palacký's Politisches Vermächtniss"
Palacký's Politisches Vermächtniss
- Titel
- Palacký's Politisches Vermächtniss
- Autor
- František Palacký
- Ort
- Prag
- Datum
- 1872
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.0 x 23.6 cm
- Seiten
- 42
- Kategorien
- Dokumente Geschichte