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Nachbarn, als berechtigt akceptiren, kann es nicht anders sein, als dass
noch zur Stunde schiefe Vorurtheile in Menge die öffentliche Meinung
Europas — insbesondere mit ^Rücksicht auf die Strebungen und
Absichten der Russen — beherrschen. Wie hätte ich sonach nicht
trachten sollen, mir eine eigene, auf Wahrheit basirte und gründ-
liche Ueberzeugüng zu verschaffen?
Ich schätze es mir für einen nicht geringen Gewinn, dass ich
bereits keinen Grund finde, mich vor irgend einer künftigen rus-
sischen Universalmonarchie zu fürchten. We^r nur immer bedenkt,
unter welqhen Bedingungen dieselbe realisirt werden könnte, wird sich
darob sicherlich nicht wundern, und desto weniger es mir verargen,
dass ich in derselben „ ein unaussprechliches Uebel,a „ ein Unglück ohne
Mass und Ziel" etc. sah und noch zur Stunde sehen würde. Weil
alle tüchtigen Volksstämme derselben Widerstand leisten würden —
und zwar mit Daransetzung des letzten Groschens und des letzten
Bluttropfens — würde eine solche Universalmonarchie nichts
Anderes bedeuten, denn eine gewaltsame Bezwingung, vollkommene
Unterwerfung und Verknechtung des gesammten gebildeten Europas,
die Unterdrückung und Erstickung aller freien und edlen Gedanken
und Bestrebungen des menschlichen Geschlechtes. Kein Universal-
monarch, weder ein russischer noch auch irgend ein anderer, ver-
möchte selbst beim besten Willen ein Titus oder Trajan zu werden,
weil die unaufhörlichen und zahllosen aller Orten ausbrechenden
Empörungen und Aufstände, als Versuche zur Wiedergewinnung
der Freiheit, auch den aufrichtigsten Philanthropen schliesslich zu
strengen und grausamen Massnahmen, vor welchen er unter andern
Verhältnissen selbst zurückgebebt hätte, zwingen würden. Doch
ich kürze dies^ Betrachtung desto lieber ab, je besser ich mich
überzeugt habe, dass sie eigentlich gegenstandslos wäre.
Die gebildeten Russen insgesammt — und ihre Anzahl ist
nicht gering — sehnen sich nicht nur nicht nach einer Erweite-
rung der Grenzen ihres Reiches nach Westen hin, sondern würden
eine solche als ein Missgeschick ansehen, falls sie dazu aus
irgend einem Anlasse genöthigt würden. Die Ausdehnung des rus-
sischen Reiches ist bereits so gewaltig, dass jegliche Vergrösserung
desselben die Verlegenheiten der Regierung vermehren würde, und
ausserdem würde jedwede Inkorporirung neuer nationaler Elemente in
den russischen Staat in Hinkunft den Charakter der russischen Ge-
schichte zu alteriren drohen. Das natürliche Mitgefühl und die Freund-
schaft für die unterdrückten Glaubens- und Stammesgenossen in der
Türkei und in Oesterreich werden fälschlich als Herrschgelüste ge-
deutet. Namentlich die Eroberung und Annexion von Konstan-
tinopel zum Carenreiche würden die gebildeten Russen als ein
wahres Unglück ansehen, weil eine jede Hoffnung auf die Assi-
milation des neugewonnenen Besitzes mit dem ^resammtreiche
thöricht wäre, und eine Zweitheilung des russischen Gebiets kann
weder der Car noch überhaupt ein vernünftiger Patriot herbei-
wünschen. Mit Rücksicht auf Europa geht der Wunsch der russi-
schen Politiker lediglich dahin, an den westlichen Grenzen in
keinerlei direkte Nachbarschaft und Berührung mit allzu mächtigen
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Buch Palacký's Politisches Vermächtniss"
Palacký's Politisches Vermächtniss
- Titel
- Palacký's Politisches Vermächtniss
- Autor
- František Palacký
- Ort
- Prag
- Datum
- 1872
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 15.0 x 23.6 cm
- Seiten
- 42
- Kategorien
- Dokumente Geschichte