Page - 34 - in Algorithmuskulturen - Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
Image of the Page - 34 -
Text of the Page - 34 -
Jonathan Roberge und Robert
Seyfert34
wer richtig und wer falsch liegt. Wo die Computerwissenschaften Algorithmen
als Verfahren und Rezepte der Problemlösung definieren, betonen Ansätze wie
die der Kultursoziologie deren performative Effekte, ihre rekursiven Operatio-
nen, mit denen Algorithmuskulturen nicht nur neue Probleme schaffen, son-
dern auch diejenigen Probleme erzeugen, auf die sie letztlich selbst wieder die
Antwort sind. Die Performativität von Algorithmuskulturen steht (wiederum re-
kursiv) in Verbindung mit Reflexionen in den Kultur- und Sozialwissenschaften
selbst. Barocas und Nissenbaum (2014) haben dargelegt, wie die Nutzung neuer
Technologien zum Anlass für Reflexionsprozesse werden kann, die uns helfen
bereits existierende Gedanken zu schärfen. Algorithmuskulturen stellen nicht
allein, wie oft nahegelegt wird, traditionelle Auffassungen von Datenschutz in
Frage, wie es beispielsweise im Zuge der Enthüllungen Edward Snowdens der
Fall war. Algorithmuskulturen wie Big Data bedrohen nicht lediglich die klas-
sischen Vorstellungen von persönlichem Datenschutz und von Anonymität, da
sie ja gar nicht mit deren klassischen Merkmalen wie Name, Adresse und Ge-
burtsort operieren. Vielmehr verändern sie die Definition dessen, was es be-
deutet anonym und privat zu sein. Bei der Erstellung algorithmischer Portfolios
der Nutzerinnen, deren Wege sie nachzeichnen, operieren sie mit vollkommen
anderen Merkmalen und erschaffen derart auch neue Identitäten. Dementspre-
chend sind auch Facebooks Schattenprofile und das, was Google zynischer Wei-
se »anonymous identifier« (AiDI) genannt hat, in Wirklichkeit Mechanismen
der Identitätspolitik (Barocas/Nissenbaum 2014: 52f.). »Anonymous Identifier«
unterscheiden sich ganz offensichtlich von klassischen Identifikatoren, die sich
auf Namen, Adressen, Sozialversicherungsnummern und dergleichen bezie-
hen. Die Klärung der Definitionen so grundlegender Begriffe ist angebracht, da
sie uns dabei helfen kann, bereits vorhersehbare Missverständnisse zukünfti-
ger politischer Regulierungen zu umgehen.
Für das Verständnis der Algorithmuskulturen ist es zentral, die Vielfalt
und Verwobenheit des sie begleitenden kulturellen Imaginären, der episte-
mischen Blickachsen, der praktischen Verwendungen und der performativen
Auswirkungen nachzuvollziehen. Aus diesem Grunde sollten Sozialwissen-
schaftlerinnen, Kulturwissenschaftler und ganz besonders die Kultursoziolo-
gie darauf achten, Versprechen, Imaginäres und praktische Wirkungen nicht
zu verwechseln oder gar zu vermischen. Das bedeutet nun keineswegs, dass
wir das kulturelle Imaginäre zu purer Phantasie degradieren. Auch Imaginä-
res ist real und zeitigt innerhalb algorithmischer Kulturen reale Effekte, die es
zu berücksichtigen gilt. Und doch differieren die performativen Effekte des
Imaginären und die performativen Effekte von Praktiken signifikant. Es ist
wichtig, in der Lage zu sein, beides zu unterscheiden und das gilt nicht nur für
die Kultursoziologie.
Übersetzt von Moritz Plewa.
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik