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5. Den Algorithmus dekonstruieren 147
Nutzern erlaubt, auf ihre eigene Position rein- oder rauszuzoomen, wird das
letzte totalisierende Werkzeug sein, das übrig bleibt, wenn alle anderen ver-
schwunden sind (Cardon 2014).
die Vernebelung erKlärender ursachen
Eine dritte Transformation hat das Fundament der statistischen Standard-
modelle über den Haufen geworfen: Korrelationen brauchen keine Ursachen
(Anderson 2008). In Anerkennung unserer Unkenntnis der Gründe, die für
einzelne Handlungen verantwortlich sind, haben wir die Suche nach einem
a priori Erklärungsmodell aufgegeben. Zudem hat sich in einigen Bereichen
der Statistik eine neue Beziehung zur Kausalität entwickelt, die ›bayesschen‹
Modellen einen posthumen Sieg über ›frequentistische‹ Modelle in der Tra-
dition von Quetelet beschert (McGrayne 2011). Die statistischen Modelle der
neuen Datenwissenschaftler kommen aus der exakten Wissenschaft, insofern
sie induktiv, mit der geringstmöglichen Anzahl an Hypothesen, nach Mus-
tern suchen. Die derzeitige Rechnerleistung erlaubt das Testen aller möglichen
Korrelationen, ohne dass einige vorher ausgeschlossen werden mit der Begrün-
dung, dass die Ereignisse, die zu ihnen geführt haben, vielleicht niemals ge-
schehen werden. Es wäre irreführend anzunehmen, dass diese Methoden nur
nach Korrelationen suchen, die ›funktionieren‹, ohne sich der Mühe zu unter-
ziehen, sie zu erklären. In Wirklichkeit produzieren sie viele Verhaltensmo-
delle, die erst a posteriori und somit als Knäuel von Erklärungen auftauchen,
deren Variablen sich in verschiedenen Nutzerprofilen verschieden verhalten.
In einer vereinheitlichten Theorie des Verhaltens operieren Algorithmen als
ständig wechselndes Mosaik kontingenter Mikro-Theorien, die lokale Pseudo-
erklärungen wahrscheinlichen Verhaltens artikulieren. Diese Berechnungen
sind dazu bestimmt, unser Verhalten zu den wahrscheinlichsten Objekten zu
führen: Man braucht sie nicht zu verstehen und kann es oft auch nicht. Diese
auf den Kopf gestellte Art und Weise, das Soziale zu fabrizieren, ist eine Wi-
derspiegelung der Umkehrung von Kausalität, die dadurch zustande kommt,
dass statistische Berechnung der Individualisierung unserer Gesellschaft so-
wie der Unbestimmtheit einer wachsenden Zahl von Determinanten unserer
Handlungen Rechnung tragen soll. Die derzeitige Logik von Forschern und
Datenwissenschaftlern ist in der Tat frappant in ihrer Art, wie sie das Gefüge
der Gesellschaft zu rekonstruieren versucht: kopfüber und von unten. Sie be-
ginnt beim individuellen Verhalten, um dann daraus die Bedingungen, die es
statistisch wahrscheinlich machen, abzuleiten.
Die Untersuchung der Rechentechniken, die sich heute in der digitalen
Welt rasant entfalten, ermöglicht es uns, die soziopolitischen Dimensionen
der Entscheidungen zu verstehen, die Forscher treffen, wenn sie Algorithmen
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik