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ALJ 1/2015 Beate SĂĽndhofer 97
lichen Vorschriften, kann dies ebenso als Argument für das Vorliegen eines europäischen Kon-
senses verstanden werden. Das Fehlen gesetzlicher Regelungen kann also in beide Richtungen
gedeutet werden. Das zeigt, dass der Begründungsansatz des fehlenden europäischen Konsen-
ses nicht in jedem Fall geeignet ist, einen weiten Ermessensspielraum der Staaten zu begrĂĽnden.
Zu überlegen ist auch, inwiefern die zeitliche Dimension bei der Feststellung eines europäischen
Konsenses eine Rolle spielt.70 Mit dem Fall S.A.S. hat der EGMR hinsichtlich eines allgemeinen
Verbots der Gesichtsbedeckung den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum aufgrund
eines fehlenden europäischen Konsenses zugesprochen, den er aus der Tatsache ableitet, dass in
den Mitgliedstaaten keine gesetzliche Regelung besteht. Es stellt sich die Frage, wie der europäi-
sche Konsens zu beurteilen ist, wenn auch infolge dieses Urteils in den Mitgliedstaaten keine
gesetzlichen Vorschriften erlassen werden. Dies könnte einerseits als (noch immer) fehlender
Konsens gedeutet werden bzw andererseits als nun doch vorhandener Konsens, aufgrund der
langen Zeitspanne, in der die Staaten sich nicht veranlasst sahen, gesetzliche Regelungen zu
treffen. Auch angesichts dessen ist das Argument der fehlenden gesetzlichen Bestimmungen in
den Mitgliedstaaten für die Begründung eines fehlenden europäischen Konsenses nicht geeignet.
Zur Beurteilung, ob ein europäischer Konsens vorliegt bzw fehlt, gibt es für den EGMR somit un-
terschiedliche BegrĂĽndungsweisen.71 Im Zuge einer Rechtsvergleichung zieht er einerseits die in
den Ländern vorhandenen, andererseits aber auch die fehlenden gesetzlichen Regelungen in
Betracht.72 Er beruft sich unter anderem auf völkerrechtliche Verträge und internationales soft
law.73 Und nicht zuletzt spielen der europäische bzw internationale Diskurs und die Entwicklun-
gen hin zu einem erkennbaren Trend eine Rolle.74 Die Entwicklung einheitlicher Kriterien, unter
welchen Voraussetzungen der EGMR das Vorliegen bzw das Fehlen eines europäischen Konsen-
ses annimmt, wĂĽrde zur Transparenz und Vorhersehbarkeit der Entscheidungen in diesem Be-
reich beitragen.75
IV. Résumé
Das Urteil des EGMR im Fall S.A.S. kann trotz der eingehenden rechtlichen BegrĂĽndung nicht in
allen Punkten ĂĽberzeugen. Schon das Vorliegen eines legitimen Zieles, das mit dem generellen
Gesichtsbedeckungsverbot in der Ă–ffentlichkeit verfolgt wird, kann entgegen der Argumentation
des EGMR bezweifelt werden. Obwohl der Gerichtshof seine eigene Kontrolldichte angesichts des
weiten Ermessensspielraumes einschränkt, geht er nach einer ausführlichen Prüfung hinsichtlich
des Vorliegens eines legitimen Zieles im Rahmen der Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeits-
prüfung eingehend auf die vorgebrachten Argumente ein. Seine Ausführungen deuten zunächst
auf die Feststellung einer Verletzung hin76, bis er mit dem letzten Argument („having regard to
70 Vgl dazu Grabenwarter, Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte, EuGRZ 2011, 229 (231).
71 Siehe dazu ausfĂĽhrlich Donnelly/Hjartarson/Wildhaber, No Consensus on Consensus? The Practice of the Euro-
pean Court of Human Rights, HRLJ 2013/33, 248 (248 ff).
72 Siehe dazu oben Fn 64, Fn 65 u Fn 66.
73 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich, separate opinion, Rn 19; EGMR 9. 6. 2009, 33401/02, Opuz Rn 164;
EGMR 13. 6. 1979, 6833/74, Marckx Rn 41.
74 Siehe dazu oben Fn 65.
75 Vgl dazu Donnelly/Hjartarson/Wildhaber, HRLJ 2013/33, 262; Pabel in FS BrĂĽnner 616.
76 Siehe dazu EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 113–149.
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Austrian Law Journal
Volume 1/2015
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2015
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 188
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal