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ALJ 2018 Dual-Use-Verträge 97
aus dem inneren System zu. Es beschränke sich die systematische Auslegung oft auf den Hinweis
auf den effet utile als Prinzip des Gemeinschaftsrechts (nunmehr Unionsrechts). Nach Herresthal
stehe die mangelnde Wertungskohärenz des (sekundären) Unionsrechts und der fehlende Wille
eines Unionsgesetzgebers zu einer kohärenten Ausgestaltung des Sekundärrechts der rechtsakt-
übergreifenden Auslegung entgegen, es sei denn, in den Materialen eines Sekundärrechtsaktes
werde ausdrĂĽcklich darauf Bezug genommen oder horizontale Rechtsakte wie eine Kaufrechts-
verordnung steigern die Wertungskohärenz im Unionsrecht nachhaltig.54
Ein anderer Teil der Lehre befürwortet hingegen den Kohärenzanspruch des Gesetzgebers, wes-
halb die rechtsaktĂĽbergreifende Auslegung in Betracht komme. Nach Riesenhuber und Grundmann
sei trotz fragmentarischen Charakters auch übergreifend ein Systembildungswille und Kohärenz-
anspruch des Gesetzgebers im Unionsrecht erkennbar.55 Martens differenziert zwischen zwei
Fragen, nämlich einerseits, ob das Recht ein inneres System aufweise, und andererseits, inwie-
weit das Recht als solches System interpretiert werden mĂĽsse. Bei der Interpretation des Rechts
seien Werte der Folgerichtigkeit und der inneren Einheit des Rechts als Ausfluss des Gleichheits-
satzes zu berĂĽcksichtigen.56 Die Bedeutung systematischer Argumente bei der Interpretation des
Rechts lasse sich nur konkret unter BerĂĽcksichtigung der ĂĽbrigen Argumente und des Gewichts
der sich tragenden rechtlichen Werte bestimmen. Die Interpretation, die die innere Einheit und
Folgerichtigkeit des Rechtsaktes sucht, werde regelmäßig dem Willen des Unionsgesetzgebers
entsprechen. Der Rechtsakt solle im Sinne eines möglichst harmonischen und stimmigen Werkes
verstanden und interpretiert werden.57
ZugegebenermaĂźen ist das systematische Niveau nicht mit jenem der nationalen Gesetzgebung
vergleichbar. Kohärenz kann einfacher erreicht werden, wenn der Gesetzgeber alle Aspekte bspw
des Vertragsrechts regelt und nicht nur spezifische.58 ME spricht aber – entgegen Herresthal –
weder eine Wertungsinkohärenz des (sekundären) Unionsrechts noch ein fehlender Wille eines
Unionsgesetzgebers zu einer kohärenten Ausgestaltung des Sekundärrechts gegen eine Kohä-
renz, die eine rechtsaktĂĽbergreifende Auslegung rechtfertigt.
Der Gedanke eines widerspruchsfreien und wertungskonsistenten Rechts wird allgemein mit der
(formalen) Gerechtigkeit verbunden. Canaris hat die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere
Einheit als Ausprägungen des Gleichheitssatzes verstanden und auf die formale Gerechtigkeit
zurückgeführt. Auch im Unionsrecht sind diese Prinzipien anerkannt.59 Dieser Kohärenzanspruch
des Gesetzgebers zeigt sich besonders im Europäischen Privat- und Zivilverfahrensrecht. An
der Nummerierung der Verordnungen lässt sich ein Ordnungswille erkennen: bspw Rom I-VO,
Rom II-VO etc oder BrĂĽssel Ia-VO (EuGVVO 2012), BrĂĽssel IIa-VO (EuEheVO).60 Ein ausdrĂĽcklicher
54 Heeresthal in Arnold 75.
55 Riesenhuber in Riesenhuber3 § 10 Rz 24.
56 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013) 414 f.
57 Martens, Methodenlehre 415.
58 Riesenhuber, English common law versus Systemdenken, Utrecht Law Review 2011, 117 (120).
59 Canaris, Systemdenken 16 ff; Martens, Methodenlehre 413 f mwN; Heeresthal in Arnold 68 mwN; kritisch Höpfner,
Auslegung 38 ff.
60 Vgl Riesenhuber in Riesenhuber3 § 10 Rz 24. Diese Abkürzungen stehen für: VO (EG) 593/2008 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 17. 6. 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht
(Rom I), ABl L 2008/177, 6; VO (EG) 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 7. 2007 über
das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl L 2007/199, 40; VO (EU)
1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 12. 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl L 2012/351, 1; VO (EG)
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Austrian Law Journal
Volume 2/2018
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 2/2018
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 94
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal