Page - 70 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
Image of the Page - 70 -
Text of the Page - 70 -
Spannung, eine Unlebendigkeit im Leben selbst. Was sich damals unbewußt
in manchen Augenblicken der Halberkenntnis in mir sehnsüchtig regte: es
waren nicht eigentlich Wünsche, sondern nur der Wunsch nach Wünschen,
das Verlangen, stärker, unbändiger, ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren,
mehr zu leben und vielleicht auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz
durch eine allzu vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an
diesem Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte, daß
ich immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art Erstarrung in
mein Gefühl gekommen war, daß ich – vielleicht ist es am besten so
ausgedrückt – an einer seelischen Impotenz, einer Unfähigkeit zur
leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt. An kleinen Zeichen erkannte
ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir auf, daß ich im Theater und in der
Gesellschaft bei gewissen sensationellen Veranstaltungen öfter und öfter
fehlte, daß ich Bücher bestellte, die mir gerühmt worden waren und sie dann
unaufgeschnitten wochenlang auf dem Schreibtisch liegen ließ, daß ich zwar
mechanisch weiter meine Liebhabereien sammelte, Gläser und Antiken
kaufte, ohne sie aber dann einzuordnen und mich eines seltenen und
langgesuchten Stückes bei unvermutetem Erwerb sonderlich zu freuen.
Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise
Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten
Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im Sommer – auch
schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die von nichts Neuem sich
lebhaft angelockt fühlte – in Wien geblieben, als ich plötzlich aus einem
Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit der mich seit drei Jahren eine intime
Beziehung verband und von der ich sogar aufrichtig meinte, daß ich sie liebe.
Sie schrieb mir in vierzehn aufgeregten Seiten, sie habe in diesen Wochen
dort einen Mann kennengelernt, der ihr viel, ja alles geworden sei, sie werde
ihn im Herbst heiraten, und zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende
sein. Sie denke ohne Reue, ja mit Glück an die mit mir gemeinsam verlebte
Zeit zurück, der Gedanke an mich begleite sie in ihre neue Ehe als das Liebste
ihres vergangenen Lebens, und sie hoffe, ich werde ihr den plötzlichen
Entschluß verzeihen. Nach dieser sachlichen Mitteilung überbot sich der
aufgeregte Brief dann in wirklich ergreifenden Beschwörungen, ich möge ihr
nicht zürnen und nicht zuviel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle
keinen Versuch machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit
gegen mich begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch bei
einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn sie sei in
Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und als Nachsatz, mit
Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: »Tue nichts Unvernünftiges,
verstehe mich, verzeihe mir!« Ich las diesen Brief, zuerst überrascht von der
Nachricht und dann, als ich ihn durchblättert, noch ein zweites Mal und nun
70
back to the
book Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik