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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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wird es sich um die Frage handeln, ob Du bei Deinen Beschäftigungen das lei-
denschaftliche Übermaß vermeiden kannst, an dem Du bisher gescheitert bist.
Du nimmst jetzt die Rechte eines großen Mädchens in Anspruch – im vorher-
gehenden Brief hatte Anna erzählt, dass sie jetzt, wo sie doch schon groß
sei, seine Bücher lese –, die ich Dir sehr gerne einräume. Dann wirst Du aber
aus den Büchern, die Du liest, verstanden haben, daß Du darum so übereifrig,
unruhig und unzufrieden warst, weil Du wie ein Kind vor manchen Dingen
davongelaufen bist, vor denen sich das erwachsene Mädchen nicht schrecken
darf. Wir werden die Änderung daran erkennen, daß Du Dich nicht mehr aske-
tisch von den Zerstreuungen Deines Alters zurückziehst, sondern das gerne
tun willst, was anderen Mädchen Vergnügen macht. Es bleibt daneben Raum
genug für ernste Interessen. Wenn man aber zu ehrgeizig, zu empfindlich ist
und einem Stück des Lebens und seiner eigenen Natur fremd bleiben will, fin-
det man sich auch in dem gestört, worauf man sich werfen möchte.55 Annas
Desinteresse an Männern als Objekte ihres Begehrens, ihre Gebundenheit
an ihn und ihre Libido, die sich in einem Schlupfwinkel verkrochen habe,
wie er einmal an Lou Andreas-Salomé schreibt,56 wird Freud in den Briefen
an verschiedenste Vertraute über viele Jahre hinweg immer wieder erwäh-
nen 57 – Dem Versuch, Annas ›Backfischleben‹ auf die Sprünge zu helfen,
indem er vor der Störung auch der geistigen Interessen durch zu extremen
Rückzug aus dem Sozialen warnt, fügt Freud auch ein Stück Psychoanalyse
hinzu, das eine seit längerem bestehende Hysterie-Hypothese seinerseits
bestätigt: Du weißt doch, Du bist ein bißchen närrisch. Ich verfolge Dich schon
lange so und hoffe immer, daß Deine Einsicht es gut überwinden wird. Mir war
es nicht zweifelhaft, daß Du die Rückenschmerzen direkt beim Sticken bekom-
men hast, wie Du das Hochzeitsgeschenk für Sophie mit geteilten Gefühlen
fertig machen wolltest. Jetzt ist Dir plötzlich wieder schlecht geworden, und
soviel ich ahnen kann, hängt es mit Max’ Anwesenheit in Wien, mit dem ver-
sprochenen (oder abgesagten?) Besuch auf der Hochzeitsreise bei Dir zusam-
men. Die uralte Eifersucht auf Sophie, an der Du, wie ich weiß, selbst nicht
55 SF-AF, S 103 f , Brief v 2 Februar 1913
56 Zit. in Gay, Freud, S. 495. Die Passage wurde im v. Herausgeber E. Pfeiffer stark
gekürzten Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé
nicht ediert
57 Zusammengefasst bei Gay, Freud, S. 491 ff.
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik