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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 23
schuld bist, sie weit mehr, scheint sich auf Max übertragen zu haben und Dich
zu quälen.58 Freud deutet Annas Beschwerden demnach als Konversions-
symptome im Rahmen des ›negativen‹, also auf den gleichgeschlechtlichen
Pol bezogenen Aspekts des Ödipuskomplexes: Max ist der Rivale, Sophie
die Begehrte, der Rücken steht für den Penis als Hochzeitsgeschenk für
Sophie (schmerzende Rücken werden unbeweglich – steif …).59 Die Sache
scheint Freud so bedeutungsvoll, dass er Anna trotz ihres Protests die Teil-
nahme an der Hochzeit der Schwester verwehrt60 und Sophies Einladung
im Frühjahr nicht nur ablehnt, sondern sogar vor Anna verheimlicht: Deinen
anderen Wunsch Anna über die Marienbader Zeit bei Dir [zu] haben, möchte
ich nicht erfüllen. Ich hab ihr auch nichts von Deiner Einladung, so lieb sie ist,
gesagt. Das Kind erholt sich jetzt prächtig u soll nicht mehr im Gleichgewicht
erschüttert werden. (…) Übrigens magst Du noch [so] sehr vorhaben, Anna
in Hmbg nicht zu verloben, ein Aufenthalt bei einem jungen Paar macht ein
Mädchen gewiß sehnsüchtig u unzufrieden.61 Da er, wie wir gesehen haben,
gleichzeitig Annas asketische Haltung zu mildern versucht, benutzt Freud
hier Sophie gegenüber wohl nur ein vordergründiges Argument, hinter
dem als eigentliche Befürchtung die Virulenz des negativen Ödipus – Annas
unbewusste Konkurrenz mit dem männlichen Eindringling um die erotisch
anziehende Frau – und die Provokation weiterer hysterischer Symptomatik
stehen: Bereits 1896 hatte er eine abnorme[] Reaktion gegen sexuelle Ein-
drücke, durch welche uns die Hysterischen in der Pubertätszeit überraschen,62
konstatiert – eine Wirkung, die vielleicht auch die erotisch aufgeladene At-
mosphäre63 im Domizil der frisch Verheirateten hervorrufen würde …
58 SF-AF, S 98 f , Brief v 5 Jänner 1913
59 In der von Sigmund Freud herausgegebenen Internationalen Zeitschrift für
Psychoanalyse interpretiert Barbara Lantos im Rahmen der Analyse einer Kon-
versionshysterie das Symptom von Rückenschmerzen bzw. -steifheit als Sym-
bol für den Penis, was hier als Beleg für die Gängigkeit dieser Lesart dienen
kann. Vgl. Lantos, Analyse einer Konversionshysterie im Klimakterium, S. 121 ff.
60 SF-AF, S 92, Brief v 13 Dezember 1912, u S 94, Brief v 16 Dezember 1912
61 SF-BadK, S 479 f , Brief an Sophie v 21 April 1913
62 StA VI, S 63
63 Immerhin war Sophie, nach der Hochzeit Ende Jänner 1913, bereits im April/
Mai schwanger (die Gründe für den Abbruch der Schwangerschaft sind unklar).
SF-BadK, S 453
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik