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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 35
1902 in der in Wien erscheinenden jüdischen Wochenschrift ›Die Neuzeit‹
angeprangert In Aufsehen erregender Weise zerfasern und zergliedern
sie psychologische Probleme, wobei die Schilderung sich oft seitenlang ins
Ungehörige verirrt. Die (auch hier unverhohlen lächerlich gemachten)
schreiblustigen Damen werden zur Rückkehr zu jener Reinheit und Sittlich-
keit gemahnt, die der Stolz des Judenthums, verkörpert in den weiblichen
Engeln der Keuschheit, seien 137
Anna Freud ist im kulturellen Milieu solcher Zuschreibungen aufge-
wachsen. Von der Schwägerin offen so bezeichnet, wird auch ihr das
zeitgenössische Klischee des ›Blaustrumpfs‹, insbesondere des ›schrei-
benden Blaustrumpfs‹,138 nicht unbekannt geblieben sein Vielleicht
spielt auch das eine gewisse Rolle in der Zurückhaltung, die sie, was ihre
Schreibversuche betraf, immer wahrte Von Publikationsversuchen ist in
den Briefen, in denen sie ihre literarischen Projekte erwähnt, nie die Rede
Den direkten Wunsch, Dichterin zu werden, äußerte sie – soweit wir der
oral history vertrauen wollen – in Gesprächen mit Robert Coles Anfang
der Siebzigerjahre, als sie sich an ihre Zeit als Lehrerin in Wien zurücker-
innert: Damals las ich sehr viele Gedichte, und ich wünschte mir, Gedichte
schreiben zu können, die nicht nur für mich, sondern auch für andere be-
deutsam sein würden (ein wichtiger Unterschied, glauben Sie mir, das habe
ich allmählich begriffen!).139 Und: Hätte ich gute Gedichte schreiben können,
wäre ich Dichterin geworden.140 – Diese Zeit, in der Anna den Wunsch hegt,
eine ›gute‹ Dichterin zu werden, wird in den Quellen erstmals 1914 fass-
bar Und zwar zunächst in Form von Übersetzungen aus dem Englischen
Am 17 Mai 1914 schreibt Sigmund Freud an Karl Abraham: Es wird Sie
interessieren, daß wir unlängst entdeckt haben, daß meine Kleine englische
Dichter sehr schön in deutsche Verse übersetzt. Ich habe ihr als Probe eini-
ge der Hebrew Melodies von Byron vorgelegt und kann es nicht leugnen,
daß mir ihre Wiedergabe fast besser gefiel als die von Gildemeister. Es ist
137 E. M., Moderne jüdische Schriftstellerinnen, S. 236.
138 Helduser, Geschlechterprogramme, S. 129 ff.
139 Coles, Anna Freud, S 27 f
140 Coles, Anna Freud, S. 222. Hier zitiert Coles auch folgende mündliche Aussage
Anna Freuds: Ich glaube, wenn ich an die Universität gegangen wäre, hätte ich
Literaturwissenschaft studiert.
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik