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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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sich an der Tiefe drinnen ausgiebt, findet sich die künstlerische Phantasie
einen andersartigen Pfad in eine andersartige ›Realität‹, auch wenn die be-
sondere Art des künstlerischen Formdranges (…) weit eher der Objektivi-
tät der Traumdinge oder der psychotischen Wahnbilder entspricht als dem
normalen infantilen Weg in’s sich entwickelnde Bewußtsein.211 Tagträume
bleiben ›werkfern‹, so Lou, ihre fast unsymbolisierte Wunschhaftigkeit be-
tonend212, obgleich das in ihnen herumgeisternde produktive Element213
genuin schöpferisch ist und zum Kunstwerk führen könnte. Ganz expli-
zit Annas ›schöne Geschichten‹, diese Langschläfer, könnten aufwachen
und sich literarisieren, wenn sie erst entwöhnt würden, d. h. sobald irgend
welche allzu persönlichste Konnexe aufhören, in denen sie noch zu ihr selbst
stecken.214 Annas schöpferisches Potential hält Lou für etwas, das, falls
stark genug, sozusagen die Analyse hätte unnötig machen können; dies
tat es aber nicht, und als es so sehr lang dauerte mit dem gleichsam nicht
vor- noch rückwärts Gehen davon, sagte sie sich manchmal: vielleicht ist
das kein Weg.215 – Was hemmt, ist aber vielleicht nicht, oder nicht nur die
mangelnde Stärke der Kreativität, wie Lou meint Vielmehr scheint, wie
bereits angedeutet, Freud selbst den Schreibversuchen der Tochter im
Wege zu stehen In ihren Briefen an ihn erwähnt Anna ihre laufende lite-
rarische Arbeit durchaus,216 und es ist unwahrscheinlich, dass er von den
Gedichten, die sie während der Analyse schrieb, nichts gewusst hat In
den Briefen an Anna reagiert er auf das Thema nie; den Briefen zwischen
Anna und Lou lässt sich eine Art Verzögerungs- und Ablenkungstaktik
entnehmen: Nach der Rückkehr von ihrem Besuch bei Lou im Frühjahr
1922 beispielsweise – bevor sie ihren Antrittsvortrag hielt – wollte sie
gleich auf eine Geschichte losgehen und sie aufschreiben, aber Papa hat
gefunden, sie solle sie lieber lassen und an ihren Vortrag denken 217 Auf
das Romanprojekt »Heinrich Mühsam« wirkt er auch nicht gerade beflü-
gelnd ein: Papa würde, glaube ich, finden, es ist sehr überflüssig und scha-
211 LAS-AF, I, S 97
212 LAS-AF, I, S 329
213 LAS-AF, I, S 327
214 LAS-AF, I, S 277
215 LAS-AF, I, S 327
216 erstmals 1919; SF-AF, S 235, S 244, S 265, S 304
217 LAS-AF, I, S 47
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anna Freud
- Subtitle
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Editor
- Brigitte Spreitzer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Size
- 13.5 x 21.0 cm
- Pages
- 144
- Keywords
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Categories
- Weiteres Belletristik