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Wie aber kommt er erst ins Reden? Wie »stegreift« er? Was prädesti-
niert ihn dazu? In dem launigen Text »Über das Reden« läßt er sich in
die Karten sehen: »›Stegreifreden‹, das heißt im Grunde: sich einbilden
können, daß man unter dem Galgen steht und nur noch fünf Minuten
für eine rettende Ansprache Zeit hat.«70 Oberste Regel: »des Redners
Blutdruck ist wichtiger als seine Beschlagenheit. Voll wie ein Faß muß
dein Hirn beim ersten Satz sein. So daß du’s nur mit einem Witz anzu-
zapfen brauchst, damit es überläuft.«71
Entgegen Franz Bleis Annahme hütet sich Kuh davor, sich seine Rede
vorher »in allen Gedanken- und Beweisgängen deutlich zu machen«.
Täte er’s, ergäbe das ja nur eine Art Memorieren, »die Affekte wären
längst verdampft, wenn die Worte auf die Welt kommen. Ich mache mir
also bloß klar, was ich jemandem über die Materie, die ich behandeln
soll, unter vier Augen und mit ein paar Sätzen sagen würde.«72
Wie erlangt man das Animo, das es braucht, um beim Reden in Fahrt
zu kommen? – »Dadurch, daß man es sich als Antwort auf eine unbe-
kannte These oder Entgegnung suggeriert, das heißt: sich mit der ver-
schluckten Anrede: ›Falsch!‹ oder ›Im Gegenteil!‹ aufs Podium schwingt.
Als seien nämlich Hunderte Menschen im Saal versammelt, die einen
mit dem gleichen Ruf empfangen.«73 Kuh konstruiert sich einen Wider-
sacher, gegen den er sich nach allen Regeln der Fechtkunst in Hieb und
Parade funkelnd verteidigt.
Wenn es wirklich geschieht, hat er schon gewonnen! »Er braucht
dann keinen Kognak mehr, kein Anfangspathos (das für die Rede un-
gefähr dasselbe bedeutet wie die Kurbel für das Auto), ja nicht einmal
ein Podium. […] er kann aus dem Zustand des thematischen Blut-
andrangs nach dem Kopfe nicht mehr in die entsetzliche Verfassung der
Blutleere und Affektlosigkeit fallen.«74 Wenn nicht, stellt er sich vor,
der Saal empfange ihn geradezu mit dem Ruf: »Im Gegenteil!« Dann:
»Von der straff gespannten Sehne dieser Einbildung schnellt mein Rede-
pfeil los. Es ist durchaus keine rhetorische Arbeit mehr, das Rhetorische
ergibt sich daraus so von selber wie aus der Wut des Schimpfens.«75
Der Stegreif-Redner schleudert sein »Falsch!« oder »Im Gegenteil!«
einem »markierten Gegner« ins Gesicht, den er sich mit aufs Podium
nimmt, er »polemisiert mit einer Luftgestalt«76, die er sich als »einen
niederträchtigen Dickschädel, als einen prinzipiell Anders-Gesinnten,
als einen hämischen Beinsteller« vorstellt, der jede noch so plausible
Bemerkung mit der Frage »Wieso?« oder mit der Aufforderung »Be-
weisen!« unterbricht. Aus der Vorstellung, diesen ekelhaften Popanz
am Kragen zu halten und mit ihm anstellen zu können, was er will,
sprudelt sein Redefluß.
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Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien