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wie in Staat rechtfertigt, in Stücke zu schlagen: die Moral.25 Gegen
Assimilation wie auch Zionismus entwirft Kuh ein drittes Modell jüdi-
scher Identität, indem er die »Heimatlosigkeit« in eine kosmopolitische
Mission umdeutet, in ein selbstbewußtes, freigeistiges, sozialrevolutio-
näres Weltbürgertum.26
Daß Kuh nicht in den Geleisen der beinah formelhaft gängigen Alter-
native der jüdischen Moderne blieb – Assimilation oder Zionismus –,
überfordert neben seinen kühnen Thesen und seiner rhapsodischen
Verve so manchen zeitgenössischen Rezensenten.27 Ludwig Ullmann,
der Kuhs Essay nicht von ungefähr in eine Sammelbesprechung expres-
sionistischer Literatur aufnimmt28 – ihm scheint die »kämpferisch-
experimentell-prosodische Broschüre […] im Denkerischen absolut
dichterisch, im Logischen durchaus visionär, in Syntax wie Impression
vornehmlich intuitiv«29
– und der vermutet, daß Kuh in seinem rapiden
Elan »nicht mit mathematischer, sondern mit irrealer Präzision« denke,
trifft sich darin mit Kuhs eigener Einschätzung und zumindest vor-
übergehender Verwahrung gegen sich selbst im Epilog. Auch Robert
Müller steht nach dem »literarischen Genuß« einer »unendliche[n] Kette
demagogisch-aphoristischer Sätze, die im einzelnen brillant sind«, mit
leeren Händen da, meint, daß sich vom Schwung abstrahierender Vir-
tuosität kein Deutscher und auch kein Jude, dem damit ja zuallererst die
Leviten gelesen würden, getroffen fühlen werde.30 Enthusiastisch atte-
stiert Rudolf Kayser zwar, daß die »Polemik gegen Juden und gegen
Deutsche […] kaum je mit schwingenderem Florett und größerer Sicher-
heit geführt [ward] als hier«, »daß dieser Kuh ein Zeitpsycholog von
turmhoher Klugheit ist«, allein man könne auch von seinem Buch nicht
sagen, daß es »irgendwie Hilfe brächte«.31 Desgleichen Julian Gum-
perz, der zwar konzediert, daß »Juden und Deutsche« »eine – viel-
leicht
– endgültige Sammlung von Aperçus« zu diesem Thema darstelle
und daß, »wer sich dafür interessiert, wie der Jude sich im Schlafzimmer,
Bett oder Bordell benimmt«, durch Kuh bestens unterrichtet werde, es
fehle aber etwas Entscheidendes: »daß die Frage nicht in die politisch-
programmatische Atmosphäre gehoben wird, in der sie nicht nur erst
gestellt, sondern auch entschieden werden« könne.32
Daß Kuh mit seinen Hypothesen sehr wohl und gerade jüdischer-
seits ernst genommen wird, zeigen nicht bloß die ausführlichen Bespre-
chungen der Vorträge vom Winter 1919/1920, auf denen »Juden und
Deutsche« fußt, und zeigt nicht erst die Resonanz auf den Essay selbst;
wie ernst er genommen wurde, veranschaulicht die Tatsache, daß die
Berliner zionistische »Jüdische Rundschau« mit einem Vorabdruck
seinen Thesen großzügig Platz einräumt.33
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Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien