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Kuh attestiert Kraus aber auch – Kehrseite des Selbsthasses – ein
ungemein feines Organ: »Er war der Meisterdetektiv des latenten Jüdelns
im Weltraum. Wenn es auf dem Sirius mauschelte
– die Luft trug es ihm
zu. Inzestmißwachs, Schachererotik, Krämpfe der Unnaivität, Über-
redungstonfall und die Ursprache des Speisezimmers spürte er bis in
die verborgenste Ecke der Zeit und hinter dem verwirrendsten Begebnis
auf. Es war, als ob die Sphären ihn ewig mit demselben Singsang hän-
selten. Und der Mond, der nächtlich hinter Busch und Tal aufging, fragte
tückisch: Gehörst du nicht auch zu ihnen? Er mußte schreiben tagaus,
tagein, anklagen aus Notwehr und das Lebenswerk eines unendlichen
Plädoyers abspulen, dessen Faden mit jedem Zweifelswort und jeder
Fragemiene nachwuchs. […] Zweifach ist noch heute die Front, nach
der er sich ohne Rast beweisen muß: gegen die Nichtjuden, daß er als
Ankläger die Ausnahme ist, und gegen die Juden, weil er von ihrer
Kontrolle des Ertappens und Durchschauens fürchtet, daß sie sie, in
Wort und Wendung selber stark und bloß von Tat und Glauben über-
wältigt, duzbrüderlich auf sein eigenes Ertappen anwenden werden.
Daher wiederholt er wie ein zwischen Grimm und Himmelsgelispel
unschlüssiger Pfaffe bald inbrünstig, bald zeternd sein argumenten-
gespicktes ›Credo‹. / O über den unglückseligen Amokläufer, des Wor-
tes, der nie und nimmer stehen bleiben darf, weil die erste Sekunde des
Stillstands die Gefahr birgt, daß er, von einem Erkenntnis-Herzschlag
getroffen, in metaphysische Tiefen saust! Unglückselig? Wer ist glück-
licher als er, der es nicht weiß? Er kann nichts hören, was ihn umwirft
–
er hat Wortwatte in den Ohren; er kann nichts sehen, was ihn er-
schrecken macht
– wartet ihm doch überall huldvoll das eigene Gesicht
auf.«2
Kuhs im Vorabdruck getroffene Diagnose des Kraus-Jüngeltums wird
umgehend und frappant bestätigt: Am Montag früh erscheint »Karl
Kraus, der jüdische Advokat« mit der redaktionellen Vorbemerkung,
daß Kraus »hier als jüdischer Geistestypus geschaut und zum erstenmal
in seinem unheilvollen Einfluß auf die junge Generation beschrieben
wird«
– am Dienstag berichten die Wiener Zeitungen von einem »litera-
rischen Rencontre«:* Am Montag abend sitzt Anton Kuh im Arkaden-
* Als die Meldung Berlin erreicht, ist aus der Anpöbelung gar ein Revolver-
attentat geworden. Unter dem Titel »Literatur und Revolver« weiß der
Berliner »Film-Kurier« vom 1. Feber 1921 zu berichten, daß Kuh von einem
Anhänger Karl Kraus’ mit einem Revolver attackiert und die Waffe dem
»jungen Enthusiasten« im letzten Augenblick, ehe ein Unheil geschehen
konnte, aus der Hand geschlagen worden sei. In der Darstellung des »Neuen
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Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter Schübler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien