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»Verpatzter Äther« – Im Radio
»Angst vor dem Radio«1: Der Titel mag kokett klingen, zumal 1930, als
der Rundfunk den Kinderschuhen schon entwachsen ist. Kuhs Angst ist
indessen nicht mehr das bange Staunen vor dem modernen Wunder, als
das die meisten seiner Zeitgenossen die technische Möglichkeit erlebten,
(zunächst nur) die menschliche Stimme aufzuzeichnen oder live über
weite Entfernungen zu ĂĽbertragen. Auch ist er in seinem Unbehagen
angesichts einer Apparatur, über die die körperlose Stimme direkt ins
Hirn drangÂ
– in den Pioniertagen des Radios, Ende 1923, Anfang 1924,
und bis 1928, als erste Geräte mit elektroakustischem Lautsprecher die
Beschallung eines Raums ermöglichten, lauschte man dem Rundfunk
mittels Kopfhörern –, nicht allein. Seine Reserviertheit ist die »humani-
stisch gesinnter Menschen«, dieÂ
– im Gegensatz zum ElektrotechnikerÂ
–
die »vermaledeite Gewohnheit« haben, »nach dem Sinn zu fragen, bevor
sie über Zwecke disponieren«. Und sechs Jahre nachdem in Deutschland
und Ă–sterreich der Rundfunkbetrieb aufgenommen worden war, hat
sich Kuhs metaphysische Scheu vor der neuen Erfindung, die wie aus
heiterem Himmel gekommen war – Bertolt Brecht nannte den Rund-
funk eine Erfindung, die »nicht bestellt« gewesen sei2Â
–, nur verstärkt.
Einen »verpatzten Äther«, das sei aber auch schon alles, was man
dem technischen Wunderwerk an »Segnungen« zu danken habe, gran-
telt die Kuhsche Kunstfigur Brunneisel3, und sein Schöpfer expliziert:
Denn nun jagt die »Sprache des platten Lebens, bisher in der Enge ver-
weht, […] wie ein Orkan über den Erdball«; nun ist das Wellenreich des
Universums eine einzige »Kritzelwand für die phonetische Spur des
kleinen Erdenwichts« geworden. Mit einer »Flut von Rede-Papier« wird
»das arme Ohr der Menschheit« betäubt, und »indem sie das Radio so
zu einer tönenden Schwester der Zeitung machen«, merken die Rund-
funkmacher gar nicht, daĂź sie seine Erfindung unnĂĽtz werden lassen,
weil sie damit ganz den Sinn der Erfindung vergäßen: »die Entdeckung
der Menschenstimme«. Es ist dieses »Mißverhältnis zwischen Apparatur
und Geist«, das Kuh ängstigt, der »Tonfall der Gemeinheit«, der ins
Universum gesendet werde; daĂźÂ
– statt des ErdgeistsÂ
– sich, »spuckend,
zischelnd, speichelnd, fettend, der phonetische Dreikäsehoch auf un-
endliche Wellen« schwingt.
Ganz so platt wie in Kuhs Parodie »Der Tag des Rundfunks«4 neh-
men sich die Radioprogramme der 1920er und 1930er Jahre nicht aus,
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book Anton Kuh - Biographie"
Anton Kuh
Biographie
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Anton Kuh
- Subtitle
- Biographie
- Author
- Walter SchĂĽbler
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Location
- Göttingen
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3189-1
- Size
- 13.8 x 22.2 cm
- Pages
- 576
- Category
- Biographien