Page - 331 - in Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
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greifen. Ihr breites, außergewöhnliches Œuvre
umfasst ein Universum menschlicher Wesen, de-
ren Bilder sie formte: von Kindern, Frauen und
Männern ihrer unmittelbaren Umgebung bis
zu bekannten Persönlichkeiten. Sie formte Ge-
schöpfe der Fantasie, Undinen, Amazonen, trau-
ernde Seelen und weibliche Plagegeister, aber
ebenso Symbole weiblichen Widerstandes und
weiblicher Größe, wie „Kassandra“ (1982) und
„Jeanne d’Arc“ (2003), vor allem jedoch Porträts
starker Frauen der Vergangenheit und der Ge-
genwart. Und immer wieder Skulpturen, die an
die Vernichtung jüdischer Menschen gemahnen.
Ein Jahr lang hat sich die Künstlerin inten-
siv mit der Persönlichkeit Lise Meitners ausein-
andergesetzt, sich in Literatur und Fotos vertieft;
Körperhaltung, Augen und Mund sorgfältig stu-
diert und in verschiedenen Techniken, Skizzen,
Büsten, Medaillen, ausprobiert – und dabei stän- dige Veränderungen an der Plastik vorgenom-
men (Abb. 13). Ernsthaftigkeit und Würde ge-
hören ebenso zu Schwarzbachs Bildsprache wie
Ironie und Skurrilität. Im Laufe ihres Künst-
lerlebens bevorzugte sie zunehmend skulptu-
rale Formen des Unabgeschlossenen, der Aus-
lassung, des „non finito“. Die „erzählerische”
Bearbeitung des Materials rückte in den Vor-
dergrund, dessen Stofflichkeit, dessen Zufällig-
keiten sollen erkennbar sein. So ist ihr eine äu-
ßerst bewegte Figur gelungen. Der rechte Fuß
zeigt zum Hauptportal des Universitätsgebäu-
des, das Gesicht zum gegenüberliegenden Ein-
gang des Ehrenhofes, dem Eintretenden zuge-
wandt. Dadurch ist eine Drehung und starke
Dynamik in den Körper eingeformt. Die 157 cm
hohe Figur (Lise Meitner war 149 cm groß) ist
leicht nach vorn geneigt, so, als ob sie forschend
dem Betrachter ein wenig näher kommen möch-
te (Abb. 14).
Demgegenüber sind die männlichen Gelehr-
tendenkmäler des 19. und des 20. Jahrhunderts
mit der ausdrücklichen Absicht ihrer Schöpfer
in erster Linie repräsentativ angelegt. Sie wirken
auffallend statisch. Bei den Humboldt-Denkmä-
lern und bei Mommsen ist die Unbeweglichkeit,
das Majestätische schon durch die Sitzhaltung
vorgegeben. An der aufrechten Helmholtz-Sta-
tue ist keine Bewegung erkennbar. Im hoheits-
vollen Gestus, in sich ruhend, steht er den Be-
trachtern gegenüber. Unterstrichen wird die
würdevolle Haltung durch den typischen Kanon
der Attribute der Gelehrsamkeit wie Buch, Talar
und antike Bildzitate. An der gesellschaftlichen
Anerkennung dieser Gelehrten gab es keinen
Zweifel. Die Humboldts, Helmholtz, Momm-
sen, Thaer, Beuth, Schinkel – sie alle eint eine
erfolgreiche, geradlinige, ungebrochene Biogra-
fie. Sie waren Helden, Helden ihrer Zeit, Hero-
en des Geistes, und dieses Heldenhafte ist in ihr
Denkmal eingearbeitet.
Bei der Lise-Meitner-Figur dominieren in
der Körperhaltung, wie auch im Gesichtsaus-
druck, gleichfalls Selbstbewusstsein und Würde,
Abb. 13: Die Bildhauerin Anna Franziska Schwarzbach bei
der Arbeit am Tonmodell für das Lise-Meitner-Denkmal.
Von AlexAnder Von Humboldt bis lise meitner 331
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Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Title
- Der Arkadenhof der Universität Wien und die Tradition der Gelehrtenmemoria in Europa
- Editor
- Ingeborg Schemper-Sparholz
- Martin Engel
- Andrea Mayr
- Julia Rüdiger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- WIEN · KÖLN · WEIMAR
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20147-2
- Size
- 18.5 x 26.0 cm
- Pages
- 428
- Keywords
- Scholars‘ monument, portrait sculpture, pantheon, hall of honour, university, Denkmal, Ehrenhalle, Memoria, Gelehrtenmemoria, Pantheon, Epitaph, Gelehrtenporträt, Büste, Historismus, Universität
- Categories
- Geschichte Chroniken