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206 Dieurbanen„Busentempel“alsMöglichkeitsräume
Wendedamit evozieren, dass sich indieserDifferenzdochGemeinsamkei-
tenundÄhnlichkeitenergeben.EinWienerQuartett inAmerika thematisiert
sämtlicheStereotypeüberMigrant*innenausderMonarchie indenStaaten
ausderSichtderreisendenKünstler*innen,diemitanderenMigrant*innenin
Kontaktkamen.DievierKünstler,dieaufdemOzeandampfermitdenanderen
Migrant*innengemeinsamnachAmerika fahren,berichtenaus ihrerPerspek-
tivevonderAnkunftaufEllis Island,wosie ihreMusikinstrumenteundihre
„Mitreisenden“dieKoffermitdenHabseligkeiten,die indieEmigrationmitge-
nommenwerdenkonnten,durchdasEinreiseprozederezubringenversuchen.
Zunächst scheint derBlickderMusikantenaufdie anderenMigrant*innen
geprägtvoneinerDistanz. ImAbhandenkommenderMusikinstrumentewird
aber sehr schnell die (keinesfalls reinallegorische)BedeutungdieserFracht
klar,wenn in ihremVerlustnichtnur einBesitz verlorengeht, sondernmit
ihm„dieIdentitätderMusiker“.DerReisendeundDerAfrikareisendegreifen
ausdemAlltagbekannteKlischeesauf,umdenamBeginnderReisezunächst
unbekanntenRaum, indensichderReisendebegibt, zubeschreiben.Derar-
beitssuchendeReisende,der sichselbst als „Behm“,alsoBöhme,bezeichnet,
fühlt sichvor allemannegativeAttributeüberdieböhmischeBevölkerung
derMonarchieerinnert.SichselbstweistderProtagonistnurpositivkonno-
tierteKlischees zu, die negativ konnotierten hingegendem ‚Anderen‘:Der
arbeitsscheue„behm“istderChef,derfleißige„behm“derProtagonist selbst.
AbdiesemZeitpunktwerdennichtmehrnurnegativeSeitendesStereotyps
erkennbar.Auch schlägt inder zugespitztenundoffensichtlichenZuschrei-
bungdesNegativenzum‚Anderen‘einerseitsSelbstironieundanderseitsauch
gewissermaßeneinAnspruchaufSelbstreflexiondurch, indemgerade inder
Kurzsichtigkeit,Negativesnurim‚Anderen‘zuerkennen,dasKomischeerzeugt
wird.DieseAmbivalenzdesGebrauchesvonStereotypenunddasNebenein-
anderstehenvonpositivenwienegativenSeiteneinesStereotypswird inder
DarstellungdesChefsundderChefindesProtagonistenevident:Währender
seinenChef als arbeitsscheuenTschechen stereotypisiert, stellt erdie tsche-
chischeChefinalspositiveFigurdar,dieseinTalenterkenneundschätze;er
etablierteineBeziehungder ihmeigentlich indenfrüherenBeschreibungen
diametralgegenüberstehendentschechischenArbeitgeberin.
DieStücke ließensoMehrfachzuschreibungen,diedieDifferenzder ‚Ande-
ren‘ inderWahrnehmungdes ‚Eigenen‘ sichtbarmachten,augenfälligwerden.
DamitgeneriertendieKünstler*inneneineAufführungserfahrung,dienahean
derAlltagserfahrungihresPublikumswar.DennplurikulturelleGesellschaften,
wie es alleMigrationsgesellschaftensindundsomit auch jenederHabsbur-
germonarchie undderVereinigten Staatenwaren, „[…] basier[en] auf der
Ähnlichkeitslogik,aufÜberlappungen,PolyglossieundSynkretismus,unddas
steht jenseitsderEigen-Fremd-LogikenvonAssimilationoderAuthentizität.
© 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
https://doi.org/10.7767/9783205211884 | CC BY 4.0
Auf die Tour!
Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
Zwischen Habsburgermonarchie und Amerika
- Title
- Auf die Tour!
- Subtitle
- Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
- Author
- Susanne Korbel
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21188-4
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 272
- Category
- Kunst und Kultur