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christinE JakoBi-mirwald
ranken sowie den Oktopusblattmotiven und Rankenkletterern ausgestattet, die in
freilich weit weniger hieratischer Ausführung typisch für den sogenannten Chan-
nel Style in Nordfrankreich und England ab der Mitte des 12. Jahrhunderts sind.
Hier wird also aktuelle Motivik aufgegriffen und nicht, wie möglicherweise bei den
Bildvorlagen, auf Älteres rekurriert. Die ausgezirkelten Spiralranken in Gold und
Silber, womöglich im gerahmten ganzseitigen Format, zielen aber auf eine wesent-
lich höhere Ausstattungsebene als die Vorlagen. Die historisierten Initialen in Form
von Bildeinschlüssen oder mit teilweise extrem in den Buchstaben verschlungenen
Figuren (zum Beispiel auf fol. 24r die Darstellung der Versuchung Christi, wo eine
blaue Teufelsgestalt mit den beiden senkrechten Leisten einer gegenständlich aufge-
fassten Randleisten-Initiale D förmlich zu ringen scheint) zeigen teilweise ebenfalls
Channel Style-Elemente. Gleich, ob durch die Auseinandersetzung mit dem Buch-
staben oder in Gestik und Mimik bei bildausschnittartigen Szenen: Vordergründig
ist die spannungsgeladene Ausdruckskraft bei Initialen wie Miniaturen.
Unter dieser Voraussetzung ist Vorsicht bei der Bewertung der „fehlerhaften“
Raumdarstellung geboten, etwa im Pfingstbild auf fol. 4v.38 Wie dieses Spiel mit den
Ebenen zu bewerten ist, wird am ehesten im Vergleich mit den Initialen deutlich,
etwa der beschriebenen Initiale mit der Versuchung Christi, der Überschneidung
des als Lebensbaum gekennzeichneten Kreuzes (ähnlich auch in der Niello-Orna-
mentik des Kanonbilds auf fol. 10v) mit der Initiale in der Kreuzigungsinitiale zu
Heiligabend auf fol. 38r, dem als D-Schaft gebildeten Teufel im Selbstmord des
Judas auf fol. 40r, dem Martyrium des Andreas auf fol. 131r, dessen Schergen sich
um die Schäfte wickeln, sowie vor allem den stark tordierten Rankenkletterern
in den hochvirtuosen Spiralrankeninitialen und gelegentlich auch am Rand der
historisierten Initialen, etwa auf fol. 20r zu Epiphanias oder fol. 126r zu Martini.
Auch der Gebrauch der Architekturversatzstücke in den Miniaturen, so irritierend
er auf einen modernen Betrachter wirken mag, dürfte in entsprechender Weise dem
Streben nach größtmöglichem Ausdruck geschuldet sein. Im Übrigen ist das freie
Experimentieren mit Rahmen und Figuren seit den frühesten Beispielen kenn-
zeichnend für die historisierte Initiale.39
Zur Ikonographie sei hier nur kurz die Analyse von Sauer resümiert. Da das
Ausstattungsprogramm ganz offensichtlich speziell auf die Bedürfnisse des Wein-
gartener Konvents und seiner Sakraltopographie zugeschnitten war und auch in
einzelnen Illustrationen von eingehender liturgischer und theologischer Kenntnis
zeugt,40 ist davon auszugehen, dass das Programm von einem „gebildeten Mitglied
38 Schon Sauer ist in ihrer Beschreibung freilich sehr vorsichtig und hebt die Expression
und Spannung dieses freien Umgangs mit der Räumlichkeit hervor, siehe Sauer in: Das
Berthold-Sakramentar 2013–2014 (zit. Anm. 10), Bd. 2, S. 97–98.
39 Christine Jakobi-Mirwald: Text – Buchstabe – Bild. Zur Entstehung der historisierten
Initiale. Dissertation, Kassel 1997, Berlin 1998, vor allem S. 33 ff., 108 ff.
40 In diesem Zusammenhang vgl. besonders die Initiale zum Ordo der Kerzenweihe in
der Osternacht auf fol. 80r: Dargestellt ist ein Abt in Chormantel mit Manipel und
Hirtenstab, der aus einem ihm vorgehaltenen Buch vorliest. Felix Heinzer wies nach,
dass hier eine wörtliche Illustration eines Weingartener Liber Ordinarius vorliegt, der
in einer späteren Abschrift erhalten ist (Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek, Aa
72). Dazu Heinzer: Das Messbuch des Abts? Das Berthold-Sakramentar als liturgisches
Buch. In: Rudolf, Ein Buch von Gold und Silber (zit. Anm. 1), S. 111–118; Sauer in: Das
Berthold Sakramentar 2013–2014 (zit. Anm. 10), Bd. 2, S. 6–58.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Title
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Author
- Christine Beier
- Editor
- Michaela Schuller-Juckes
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Size
- 18.5 x 27.8 cm
- Pages
- 290
- Categories
- Geschichte Chroniken