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fizierung auserkoren. Ein spielerisches Element der
ADDM ist ein Machine-Learning- System, das in der
Lage ist, Tic-Tac-Toe gegen einen Menschen zu spie-
len. Das Besondere daran ist, dass diese Maschine
aus Streichholzschachteln besteht. Donald Michie
nennt diese Maschine ‹MENACE›3. Sie besteht aus
304 Streichholzschachteln, die mit farbigen Perlen ge-
füllt sind, die den Feldern des Spielfelds ent sprechen.
Jede mögliche Spielkonstellation wird durch eine
Schachtel repräsentiert. In jedem Zug zieht man eine
farbige Perle aus der dem momentanen Spielstand ent-
sprechenden Schachtel und setzt ihrer Farbe entspre-
chend ein Kreuz auf das Spielfeld. Wenn die Streich-
holzschachtelmaschine verliert, werden die von ihr
gesetzten Perlen entfernt, wenn sie gewinnt, werden
den jeweiligen Schachteln je drei Perlen der gespiel-
ten Farbe hinzugefügt. So ‹lernt› MENACE im Laufe
der Zeit, Tic-Tac-Toe zu spielen. Dieses ‹Lernen› ist
mit dem Begriff des Maschinellen Lernens gemeint,
es hat also nichts mit Intelligenz zu tun oder mit
Bewusstsein oder mit anderen Dingen, die wir hin-
reichend komplexen informationstechnischen Syste-
men zuschreiben, ohne dass dies gerechtfertigt wäre –
wir sprechen hier ja von Streichholzschachteln!
Wir Wissenschaftler*innen haben alle die mah-
nenden Worte von Albert Einstein im Ohr, dass man
Dinge so einfach wie möglich darstellen soll, aber
nicht einfacher. Die ADDM möchte Bausteine für eine
inklusive, nachhaltige und auf Menschenwürde aus-
gerichtete Gesellschaft möglichst niedrigschwellig
und spielerisch vorstellen – dazu gehört leider die De-
mystifizierung von automatisierten Systemen. ‹Leider›
schreiben wir, weil es natürlich großartig wäre, gäbe
es eine Abkürzung auf dem Weg zur Erreichung der
Sustainable Development Goals. Oder eine App. Oder
einen General Problem Solver. So bleibt uns nur wieder
die universelle Bauanleitung: Habe Mut, dich deines
eigenen Verstandes zu bedienen.
vertreib gedacht sind, sondern Teil eines Reflexions-
prozesses rund um das Thema der Automatisierung
sein sollen.
Denn auch heute, im postindustriellen Zeitalter,
gibt eine Maschine den Takt an, auch wenn sie von
ganz anderer Art ist als die Stahlgiganten des 19. Jahr-
hunderts. Es ist die Paper Machine (Alan Turing 1936,
heute bekannt als Turing-Maschine), die mittels ver-
netzter Universalcomputer in der Hand mächtiger
Konzerne und des Militärs die geistige Arbeit in ähn-
licher Art unterwerfen möchte. Ein Beispiel für die
Unterwerfung geistiger Arbeit sind Contentfilter.
So sind Menschen beispielsweise sehr gut darin, Bilder
zu erkennen und einzuordnen, Maschinen nicht. Es ist
daher nicht verwunderlich (aber leider noch zu wenig
bekannt), dass es Menschen sind, die bei der automa-
tisierten Klassifikation von Bildern und Videos hel-
fen. Was in Hochglanzbroschüren ‹Fully Automated
Content Moderation› genannt wird, bedeutet nicht
etwa, dass kein Mensch mehr am Prozess beteiligt ist,
sondern lediglich, dass der Mensch ebendie ‹
Digitale
Drecksarbeit›2 der Maschinen verrichtet. Bereits
Joseph Weizenbaum mahnte in den 1970er-Jahren,
dass wir dem Computer eine allgemeine Problem-
lösungskompetenz zuschrieben, die dieser nicht be-
sitze und nie besitzen könne.
Ein Sortieralgorithmus kann schneller als jeder
Mensch Zahlenreihen sortieren, wäre aber beim Sor-
tieren der Wäsche überfordert. Es gab historisch den
Versuch, einen General Problem Solver zu ent wickeln,
parallel zu dem ersten Künstliche-Intelligenz- Hype in
den 1950er-Jahren. Dieser General Problem Solver löst
allgemeine mathematische Probleme, er scheitert aber
an sämtlichen Herausforderungen der Wirklichkeit.
Unter dem Begriff ‹künstliche Intelligenz› sammeln
sich viele, zum Teil höchst unterschiedliche und sich
widersprechende Forschungsrichtungen. Wir haben
den Bereich des Maschinellen Lernens zur Demysti-
DIE AUTOR*INNEN
/// Dr. Stefan Ullrich, Dr. Romy Hilbig, Dr. Florian Butollo und Dr. Diana Serbanescu erforschen als Forschungsgruppenleiter*innen
am Weizenbaum-Institut in Berlin die vernetzte Gesellschaft interdisziplinär und grundlagenorientiert. Im Mittelpunkt stehen dabei
die Gestaltung der Digitalisierung zum Wohle der Gesellschaft und der Schutz von Selbstbestimmung und Engagement.
https://weizenbaum-institut.de/
/// Dr. Reinhard Messerschmidt ist Wissenschaftlicher Referent für Digitalisierung in der Berliner Geschäftsstelle des Wissenschaftlichen Bei-
rats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), der 2019 sein Hauptgutachten Unsere gemeinsame digitale Zukunft
veröffentlicht hat. https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/unsere-gemeinsame-digitale-zukunft
LITERATUR
/// 1 Merchant, B. How Google, Microsoft, and Big Tech Are Automating the Climate Crisis.
https://gizmodo.com/how-google-microsoft-and-big-tech-are-automating-the-1832790799 (2019).
/// 2 Riesewieck, M. Digitale Drecksarbeit: Wie uns Facebook & Co. von dem Bösen erlösen (dtv, 2017).
/// 3 Michie, D. Trial and Error. In: Barnett, S.A., & McLaren, A.: Science Survey, Part 2, 129–145 (Penguin Books Ltd., 1961). } ///063
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WAS BITS UND BÄUME VERBINDET
Digitalisierung nachhaltig gestalten
- Title
- WAS BITS UND BÄUME VERBINDET
- Subtitle
- Digitalisierung nachhaltig gestalten
- Author
- Anja Höfner
- Editor
- Vivian Frick
- Publisher
- oekom verlag
- Location
- München
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-SA 3.0
- ISBN
- 978-3-96238-149-3
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 152
- Keywords
- Digitalisierung, Entwicklungszusammenarbeit, Politik, Ressourceneffizienz, Nachhaltigkeitskommunikation
- Categories
- Informatik
- Technik