Page - 122 - in Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
Image of the Page - 122 -
Text of the Page - 122 -
TrĂĽmpfe
Als Korrektur gegen quantitatives Denken beruft man sich bisweilen auf
Rechte, welche dieses Denken einschränken sollen. So schlägt etwa Ronald
Dworkin vor: „One very practical way to achieve this restriction is provid-
ed by the idea of rights as trumps over unrestricted utilitarianism.”8 In
ähnlicher Weise versteht Robert Nozick Rechte im Sinne von Beschrän-
kungen (side constraints) utilitaristischer Ăśberlegungen.9 Die Frage ist aber
zum einen, welche Art utilitaristischer Ăśberlegungen durch welche Rechte
einzuschränken sind. Liberale Denker wie Dworkin und Nozick denken
bei Letzteren vor allem an individuelle Präferenzen, subjektive Freiheits-
rechte, wie sie schon mit dem Stichwort „Ethik der Interessen“ angedeutet
wurden. Zu deren Rechtfertigung bemĂĽht Nozick auch die kantische
Selbstweckformel. Die side constraints sind „Ausdruck des kantischen
Grundsatzes, dass die Menschen Zwecke und nicht bloĂź Mittel sind; sie
dürfen nicht ohne ihr Einverständnis für andere Ziele geopfert oder ge-
braucht werden. Der einzelne ist unverletzlich.“10 Das ist freilich eine mo-
derne Interpretation der kantischen Formel, die das Einverständnis der Be-
troffenen zum Kriterium dessen macht, was es heiĂźt, als Selbstzweck be-
handelt zu werden. Zwar ist auch fĂĽr Kant Wahlfreiheit von fundamenta-
ler Bedeutung. Die kantische Forderung, der Mensch mĂĽsse den Zweck
des Handelns anderer „in sich enthalten“11, bedeutet aber zunächst, dass
dieser als moralisches Wesen, vom Standpunkt der Moral aus zustimmen
können muss. Es geht also nicht um eine faktische Zustimmung, sondern
um eine normativ verstandene Zustimmung. Nozick scheint dagegen vor-
auszusetzen, ein Mensch werde zum Mittel gemacht, wenn er faktisch nicht
zustimme. Das mag zwar in vielen Fällen stimmen, und faktische Zustim-
mung ist ethisch höchst relevant; nur leitet sich dieser Gedanke nicht di-
rekt aus der MenschenwĂĽrde ab.12 Man hat den Eindruck, dass solche Art
2.
8 Dworkin, Rights as Trumps, 162f.
9 Vgl. Nozick, Anarchy, 41.
10 Nozick, Anarchy, 42. Zur kantischen Rede von Zweck und Mittel vgl. Wolbert,
Der Mensch als Mittel und Zweck, 71–80.
11 Kant, Grundlegung, IV 430.
12 Vgl. Jones, Kant’s Principle of Personality, 56: „To treat a person as a mere means
is to treat him as a means to an end in which he cannot, as a rational being, share.
It is also to use him as a means to an end which is itself morally unacceptable.”
Anders im Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 zur
kommerziellen Sterbehilfe (Siehe: https://www.bundesverfassungsgericht.de/Shar
edDocs/Downloads/DE/2020/02/rs20200226_2bvr234715.pdf?__blob=publication
File&v=4). Die Menschenwürde sichere „die Grundbedingungen dafür, dass der
Werner Wolbert
122
https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
back to the
book Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise"
Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, MenschenwĂĽrde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik