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portionalistische) Theorie behaupten wĂŒrde.16 Im Sinne einer Korrektur
können dann sowohl bestimmte Rechte oder, in anderen AnsÀtzen, be-
stimmte Pflichten dienen, seien diese im prÀsumtiven Sinn als prima facie-
Pflichten verstanden17 oder als absolut geltende Pflichten, wie bisweilen
etwa das Verbot der direkten Tötung eines Unschuldigen oder der Falsch-
aussage.18 Bei nÀherer Betrachtung ist aber oft der Unterschied nicht so
groĂ, wenn es konkret wird. Zum einen wird man nicht immer ĂŒberein-
stimmen in der Frage, was denn eine SchÀdigung (harm) ist, wie groà denn
der Schaden ist oder welche geringeren SchÀdigungen man bzw. wer gege-
benenfalls in Kauf nehmen darf. Zum zweiten kann man die Barriere ge-
gen den âuneingeschrĂ€nkten Utilitarismusâ unterschiedlich hoch konstru-
ieren, je nach der GröĂe des zu verhindernden Schadens. Insofern könnte
man auch von einem utilitarianism of rights sprechen oder â in anderem
Kontext â von einem utilitarianism of duties, der sich spĂ€testens zeigt, wenn
ein Konflikt von Rechten oder Pflichten eine AbwÀgung oder Priorisie-
rung erfordert. Das lĂ€sst sich gut illustrieren an der ĂuĂerung von Wolf-
gang SchĂ€uble ĂŒber die PrioritĂ€t des Lebensschutzes, wenn dieser feststellt,
dass man zur Rettung von Leben die Wirtschaft nicht langfristig lahmle-
gen dĂŒrfe. Hier deutet sich in der Tat ein schwerwiegender Konflikt an:
eine allzu geschwĂ€chte Wirtschaft wĂŒrde auch die Möglichkeiten der Le-
bensrettung einschrÀnken, weil das Gesundheitssystem nicht mehr finan-
zierbar wĂ€re. Man hĂ€tte also zwischen zwei gravierenden Ăbeln zu wĂ€h-
len. HÀtte SchÀuble somit als Utilitarist zu gelten? Das hÀngt wohl auch
vom Zeitpunkt ab, zu dem solche Ăberlegungen vorgetragen werden. Im
letzten Jahr hĂ€tte diese ĂuĂerung mit Sicherheit Empörung hervorgerufen
und wÀre vielleicht als utilitaristisch disqualifiziert worden, in der jetzigen
ernsten Situation gab es nur leise Kritik.
16 Was die Terminologie angeht, wird,teleologischâ oft mit,utilitaristischâ gleichge-
setzt; hÀufiger versteht man unter Utilitarismus hingegen eine bestimmte Spielart
von Teleologie, vor allem den hedonistischen Utilitarismus von Bentham, Mill
und Sidgwick oder den heute gÀngigen PrÀferenzutilitarismus etwa von Hare.
Paulsen Ă€uĂert zur Terminologie, er habe seine Position in der ersten Auflage uti-
litaristisch genannt, wegen dessen historischer Verbindung mit dem Hedonismus
habe er aber âmit zu spĂ€t kommender Vorsicht, den Ausdruck utilitaristisch
durch den Ausdruck teleologisch ersetzt, der zugleich den Vorzug hat, dass er an
die allgemeine Weltanschauung erinnert, aus der diese Form der Ethik hervorge-
gangen ist, nĂ€mlich die platonisch-aristotelischeâ (Paulsen, System der Ethik I,
219).
17 Vgl. Ross, The Right and the Good.
18 Solches VerstĂ€ndnis findet sich auĂer bei Kant auch in der moraltheologischen
Tradition. Vgl. dazu SchĂŒller, BegrĂŒndung.
Werner Wolbert
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, MenschenwĂŒrde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik