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Was ein Äquivalent hat, ist austauschbar, ersetzbar. Entsprechend versteht
man unter „Utilitarismus“ meist eine Ethik, in der alles austauschbar ist,
die für alles Äquivalente kennt, für die alle Güter abwägbar sind. Und eine
teleologische Ethik ist eben eine Ethik der Güterabwägung, welche aber
nicht ausschließen muss, dass es auch einen Wert gibt, der jeder Abwä-
gung entzogen ist, was bei Kant die Würde ist. Kant erläutert: „Also ist Sitt-
lichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was
allein Würde hat.“47 Zunächst kommt Würde also der Moralität, der sittli-
chen Gesinnung zu, dann dem Menschen48, sofern er diese realisieren
kann, nicht sofern der Mensch die Gesinnung realisiert hat. Im letzteren
Fall wären die Menschen nämlich in ihrer Würde ungleich. In der Fähig-
keit zur Moralität sind sie dagegen gleich. Und auf Grund dieser Gleichheit
gilt Benthams Grundsatz (dessen Begründung aber bei ihm unklar bleibt):
Everybody to count for one, nobody for more than one.
Mindestens in der obigen Formulierung Kants erscheint der Wert als
ethische Grundkategorie; das ist an sich das Kennzeichen einer teleologi-
schen Ethik. Bekanntlich erscheint allerdings in anderen kantischen Aussa-
gen die Pflicht als solche Grundkategorie; vom griechischen deon (δέον)
hat solche Ethik den Namen deontologisch.49 Auf der metaethischen Ebe-
ne der ethischen Basiskategorie könnte man Kant also sowohl als Deonto-
logen wie als Teleologen einordnen.50 An die Bedeutung der Pflicht knüpft
das Verständnis von Kant als Erzdeontologen an und als Antipoden gegen
jedweden Utilitarismus oder eine Ethik der Güterabwägung. Und Kant
selbst hat wohl gedacht, die einzige Alternative zu seinem Ansatz sei ir-
gendeine Form einer hedonistischen Ethik, die keine kategorische Ver-
pflichtung kennt.51 Den Gedanken einer unbedingten Pflicht würde aber
auch ein idealer Utilitarist bejahen. Das deontische Element „unbedingte
Verpflichtung“, das für Moralität konstitutiv ist, ist aber zu unterscheiden
47 Kant, Grundlegung, IV 435.
48 „Menschheit“ bedeutet hier nicht etwa Menschengeschlecht (genus humanum),
sondern das Wesen des Menschen, das, was den Menschen zum Menschen macht
(humanitas).
49 Für heutige konsequentere deontologische Theorien vgl. vor allem Prichard,
Does Moral Philosophy rest on a Mistake?; Wolbert, Güterabwägung und Selbst-
zwecklichkeit.
50 Das Verhältnis beider Bestimmungen wie auch der ersten zur zweiten Fassung
des Kategorischen Imperativs ist hier der Kant-Exegese zu überlassen.
51 Vgl. Ewing, Ethics, 60: „He kept thinking of some form of hedonism as the only
alternative to his view, and ignored the possibility of a theory which, without tak-
ing the hedonist view of good and evil, still derived the obligatoriness or wrong-
ness of an action of its good or bad effects.”
Werner Wolbert
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik