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tizanstalt aufsucht. Diese Überlegungen zeigen mit Blick auf den Verhält-
nismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechtsüberlegungen, dass Hauptver-
handlungen per Videokonferenz die absolute Ausnahme bleiben müssen
und einer Vertagung von Verhandlungen auf Zeiten nach den COVID-19-
Beschränkungen der Vorzug zu geben ist, was jedoch mit Blick auf das Be-
schleunigungsgebot, das für Haftsachen gilt, problematisch sein kann.
Faktische Beschränkung öffentlicher Hauptverhandlungen
Art 90 Abs.1 B-VG normiert die Verpflichtung zur Öffentlichkeit von Ver-
handlungen in Strafsachen mit dem Vorbehalt, dass Ausnahmen das Gesetz
bestimmt. In ähnlicher Weise kennt Art.6 Abs.1 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention (EMRK)31 den Öffentlichkeitsgrundsatz. Sinn des-
sen ist es, sowohl eine (demokratische) Kontrolle der Justiz zu ermögli-
chen als auch den Angeklagten vor einer überbordenden Gerichtsbarkeit
zu schützen.32
In Umsetzung dieser Verfassungsnormen lässt die StPO Einschränkun-
gen der Öffentlichkeit zu, wobei jedoch die Verkündung des Urteils immer
öffentlich erfolgen muss (§229 Abs.4 StPO). Für die Verhandlung kann die
Öffentlichkeit unter anderem wegen Gefährdung der öffentlichen Ord-
nung oder der nationalen Sicherheit ausgeschlossen werden (§229 Abs.1
Z. 1 StPO). Ob das Ansteckungsrisiko bei einer Pandemie darunter zu sub-
sumieren ist, bleibt fraglich.33 Und selbst bei einem Ausschluss der Öffent-
lichkeit dürfen Richter, StA und Strafverteidiger, auch wenn sie mit dem
konkreten Verfahren nichts zu tun haben, niemals ausgeschlossen werden.
Zudem dürfen Angeklagte, Opfer und Privatbeteiligte verlangen, dass drei
Personen ihres Vertrauens der Zutritt gestattet werde (vgl. §230 Abs.2
StPO). Dadurch soll stets ein Mindestmaß an Kontrolle der Justiz gewähr-
leistet bleiben.
Nun hat es der Gesetzgeber im Zuge der COVID-19-Gesetze nicht ge-
wagt, in den verfassungsrechtlich gewährleisteten Öffentlichkeitsgrundsatz
einzugreifen. Selbst wenn verhaftete Angeklagte per Video vernommen
werden (vgl. §239 Satz2 StPO), durften Zuhörer der Hauptverhandlung
3.2
31 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten;
BGBl.210/1958.
32 Siehe dazu mit Nachweisen etwa Birklbauer, JSt 2009, S.109; weiters Danek/Mann
in WK-StPO §228 Rz 4.
33 Siehe dazu die Beispiele bei Danek/Mann in WK-StPO §229 Rz 2f, welche allge-
meine Gesundheitserwägungen nicht zu tragen vermögen.
Alois Birklbauer
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik