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18 EINLEITUNG
kunst zu dieser Zeit vor Augen haben.22 Viele dieser Urteile sind rasch widerlegt, wenn
man nicht die Ansichten einer (oftmals) ideologisch verbrämten älteren Forschung un-
re ektiertübernimmt,sonderndenBlickaufdasreicheSpektrumderErscheinungsfor-
men wagt, der erst eine differenzierte Betrachtungsweise des Phänomens Dialektkunst
ermöglicht.
Schon der Vergleich mit den künstlerischen Produktionen anderer deutscher
Dialekträume zeigt, dass die Literarisierung von mundartlicher Rede nicht isoliert
vonsoziokulturellenBedingungenundVeränderungenbetrachtetwerdenkann.23 Viele
AusdrucksformenhabenanderswokeineadäquateEntsprechungbzw.eineandereHäu-
gkeit, andere wiederum kommen im bairisch-österreichischen Raum nicht oder zu
anderer Zeit vor. Unterschiede in der Verwendung und Bewertung von Dialekt, die
Bedingungen seiner Entfaltung, der Wandel seiner gesellschaftlichen Aufgaben und die
daraus resultierenden Stereotype und habituellen Normen beein ussen massiv auch
denkünstlerischenGebrauch. IndiesemBuchwerdendeshalbauch die (sprach-)politi-
schen, sozialen, konfessionellen und kulturellen Rahmenbedingungen rekonstruiert, in
denen sich Dialektkunst entfalten konnte: die Ausbildung einer diglossischen Sprach-
situation durch die schriftsprachliche Überdachung der Dialekte vor dem Hintergrund
vonGegenreformationundwiedererstarktemKatholizismus;dieEntwicklungderober-
deutschen Schreibsprache, ihr Verhältnis zum Basisdialekt und ihre Ablösung als
Leitvarietät durch die ostmitteldeutsche Schriftsprache um 1750; die Verteilung der
Dialektsprecher indenGesellschaftsschichten;diesukzessivePejorisierungdesDialekts
und die soziale Stigmatisierung seiner Sprecher; der Ein uss medialer Entwicklungen
auf Kommunikationsverhalten und Schreibgewohnheiten und anderes mehr. Aus ei-
ner sozialhistorischen Perspektive werden dabei jene kulturellen Felder rekonstruiert,
in denen sich Dialektkunst zu einem wichtigen Ausdrucksmittel mit vielfältigen Auf-
gabenbereichen entwickelte. Zu den wichtigsten gehört die Konstruktion kollektiver
Identitäten, wie sie in den gängigen Ausdeutungen einer kanongestützten Elitenkultur
nur bedingt sichtbar werden, da alltagskulturelle Phänomene darin zumeist ausgespart
bleiben. Dies dürfte auch eines der wichtigsten Argumente für eine Erschließung und
Vermittlung der bairisch-österreichischen Dialektkultur vor 1800 sein: Das scheinbar
Fremde als vergessenes bzw. ausgeblendetes Eigenes wieder sichtbar zu machen und so
dieVielfältigkeit einesKulturraumsneuzuentdecken.
*
22 DassallerdingsaucheineAkzentuierungderStärkendesDialektsähnlichunheilvoll füreinewissenschaft-
liche Auseinandersetzung sein kann wie dessen Abwertung, zeigen die zahlreichen ideologieschwangeren
Deutungsansätze zumal der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die Mundartkunst als natürlichen`
Ausdruck einer heilen Gegenwelt zu den entfremdenden Zivilisationserscheinungen der Moderne hoch-
stilisierten. Vgl. u.a. Monika Jaeger: Theorien der Mundartdichtung. Studien zu Anspruch und Funktion.
Tübingen:Bissinger1964,S.69 80.
23 Vgl. Walter Haas: Dialekt als Sprache literarischer Werke. In: Werner Besch [u.a.] (Hg.): Dialektologie.
Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Zweiter Halbbd. Berlin/New York: de
Gruyter1983,S.1637 1651.
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen