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22 GLAUBE UND ABERGLAUBE
LiederundSpieledesWeihnachtskreises
Kein anderer Bereich des Glaubenslebens ist so stark von Dialektkunst durchdrungen
wie das Brauchtum zur Weihnachtszeit. In Advent- und Verkündigungsliedern wurde
die nahende Ankunft des Herrn besungen, in den Herbergsuche-Liedern zumeist dia-
logisch seine Unbehaustheit in dieser Welt inszeniert, die Lieder zur Geburt Christi
bejubelten die Menschwerdung des Heilands, der mit Kindelwiegeliedern symbolisch
zur Ruhe gebracht wurde; auch die Neujahrslieder und Dreikönigslieder waren unver-
zichtbare Bestandteile des Repertoires der im Advent umherziehenden Ansinger` und
Kirchensänger`, die sich auf diese Weise ein kleines Zusatzeinkommen ersangen. Die
größte Gruppe des weihnachtlichen Liedguts aber stellen die sogenannten Hirtenlieder
dar, die nachweislich seit dem 14. Jahrhundert im Heischegesang zum Einsatz kamen,
in privaten Andachten vorgetragen wurden und in den Rorate-Messen oder auch in
derWeihnachtsmettezuhören waren.3 EinwesentlicherGrundfür ihreBeliebtheitwar
wohl das hohe Identi kationsangebot für die bäuerliche Bevölkerung, das sich aus der
AusgestaltungderneutestamentarischenÜberlieferungvondenHirtenaufdemFelder-
gibt, denen der Engel die Kunde von der Ankunft des Herrn überbrachte (vgl. Lukas 2,
8 20). Im Mittelpunkt steht hier der einfache, ungebildete Mensch, der dennoch das
Unfassbare glaubt und beispielhaft die richtigen Schritte setzt. Die vielfältige Verbild-
lichung der bäuerlichen Lebenswelt, die unangestrengte Annäherung an ein zentrales
Mysterium der christlichen Glaubenslehre, die auch Raum für komische Effekte lässt,
und die besondere Nähe zur szenischen Umsetzung, all das macht das Hirtenlied zum
xenBestandteildesweihnachtlichenBrauchtums.
Die ersten dialektal gehaltenen Weihnachtslieder begegnen uns im bairisch-öster-
reichischen Raum ab der Mitte des 17. Jahrhunderts. Als frühester belegbarer Druck
gilt eine (zurzeit nicht auf ndbare) Flugschrift von 1656 aus der Innsbrucker Of zin
des Hieronymus Paur, die als ersten von drei Weihnachtsgesängen In der stillen mittä
Nachtbringt.4Auseinemspäteren,angeblichinAugsburgum1700entstandenenDruck
stammtdie folgendeFassung:
3 Vgl. u.a. Karl Weinhold: Weihnacht-Spiele und Lieder aus Süddeutschland und Schlesien. Mit Einleitun-
gen und Erläuterungen. Mit einer Musikbeilage. Graz: Damian & Sorge 1853, S.396f. Wilhelm Pailler:
Weihnachtslieder und Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol. 2Bde. Innsbruck: Wagner 1881 und
1883. Sigrid Abel-Struth: Die Texte weihnachtlicher Hirtenlieder. In: Rolf Wilhelm Brednich/Lutz Röh-
rich/Wolfgang Suppan (Hg.): Handbuch des Volksliedes. Bd.1: Die Gattungen des Volksliedes. München:
Fink 1973, S.419 444. Walter Deutsch/Gerlinde Haid/Herbert Zeman (Hg.): Das Volkslied in Öster-
reich.EingattungsgeschichtlichesHandbuch.Wien:Holzhausen1993,S.336.
4 Vgl. u.a. Anton Dörrer: Hundert Innsbrucker Notendrucke aus dem Barock. Ein Beitrag zur Geschichte
der Musik und des Theaters in Tirol. In: Gutenberg-Jahrbuch 14 (1939), S.243 268, hier 268. Karl M.
Klier: Innsbrucker Lied-Flugblätter des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwer-
kes4(1955),S.56 77,hier61. KurtDrexel/MonikaFink:MusikgeschichteTirols:VondenAnfängenbis
zurFrühenNeuzeit. Innsbruck:Wagner2001,S.689.
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen