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72 GLAUBE UND ABERGLAUBE
GründeundIntentionen,weshalbdieErnsthaftigkeitunterminiertoder inFragegestellt
wird,nicht mehr festzumachen oderschwer nachvollziehbar; zuweilenaber sindes An-
liegen,diemutatismutandisauchheutzutagenochThemasind.
In der Halberzwölffö Meeß etwa ist es das unangebrachte Verhalten der Kirchgänger,
das ins Zentrum einer Sitten- und Zeitklage rückt. Die älteste bislang eruierte Hand-
schriftvon1799weisteinenJohannSichleralsSchreiberaus;oberauchAutordesTexts
ist bzw. irgendeinen Bezug zur Problematik hatte, muss dahingestellt bleiben. Das Lied
thematisiert auf heitere Weise, doch mit mahnendem Unterton den eingetretenen Sit-
tenverfallderstädtischenKirchbesucher in
dajezingZeit . ImWechselgesprächzweier
Dorfbewohner,diesichgeradeaufdemWegindieMessebe nden,werdendieFauxpas
bei Messgang und Messe lebhaft vor Augen geführt: mangelndes Interesse am Gottes-
dienst, regelmäßiges Zuspätkommen, Unruhe und Getuschel während der Messe oder
auchunmanierlicheHaltung.ZudemwürdedieJugenddieMessevielfachvorallemda-
für nutzen, nach Ledigen des jeweils anderen Geschlechts Ausschau zu halten. Dass der
GangzurMessefürmancheoffenbartatsächlichvorallemimZeichenderUnterhaltung
und Geselligkeit stand, bestätigt sich auch durch einen Kommentar Franz Sartoris zu
denLinzernundderenGewohnheiten: InseinerReisebeschreibungNeuesteReisedurch
Österreich ob und unter der Ens, Salzburg, Berchtesgaden, Kärnthen und Steyermark be-
merkterzudenortsüblichenVergnügungen,dassdiese zwarnochetwaskleinstädtisch
undgewöhnlich seien,entschuldigtdiesaberdamit,dassesdenOrtsansässigenschließ-
lichangeeigneterenOptionenfehle.SobestündendieUnterhaltungenderLinzererstens
inKulinarischem;
[e]inezweyteUnterhaltungabervonganzandererArt istdieMesseSonntagsumhalbzwölfUhr
inderDomkirche.DasschöneGeschlecht,oderwassichdazurechnet,versammelt sichda,wird
von den jungen Herren gesehen; da entwickeln sich Bekanntschaften, da werden Rendez-vous
gegeben.103
DieAusführungenSartorisbestätigenspätereÜberlieferungsträger,diedasLiedinLinz
situieren. Eine Vertonung für Streichtrio und Singstimme ist dem Bad Ischler Amts-
schreiber Johann Michael Schmalnauer (1771 1845) zugewiesen.104 Die Textwieder-
gabehier folgtder1799entstandenenHandschriftderWienbibliothek:
1
WillkummeyBrudaHannß!
wirdnötbaldzeit intküra,
GrüßgodtwiegehtsdeinWey,
JaSöblheüntgehts führa!
wasmachtdenaftdasklain,
O!Manndösmacht inszschaffa,
DöganzeNachtagschrai!
Mirkinankainsnötschlaffa. 2
DuSöppmirmüssngehn!
SunstmöchtmadMößvasamma
HeünthatsawenganReif!
Unddord,unddaaRama
DuNarrso laßdazeit,
wasdatmasobözeiten,
Hatnonothalbögschlang!
LaßerstdasErstö leüten.
103 Franz Sartori: Neueste Reise durch Österreich ob und unter der Ens, Salzburg, Berchtesgaden, Kärnthen
undSteyermarkinstatistischer,geographischer,naturhistorischer,ökonomischer,geschichtlicherundpit-
toreskerHinsichtunternommen.Wien:Doll1811,S.424.
104 7-strophigeFassung,PrivatbesitzChristianNeuhuber.
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen