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98 KRIEG UND FRIEDEN
Gegnern am 6. Mai in Kittsee gegenüber, musste sich im Verlauf der folgenden zwei
Monate aber immer weiter nach Westen zurückziehen. Während der kaiserliche Hof
aus Wien oh, erwartete die Armee gemeinsam mit einem Heer aus Männern der Bür-
gerwehr und Freiwilligen die Osmanen, die am 13. Juli Schwechat erreichten und in
den nächsten Tagen Wien vollkommen einschlossen. Da auf Befehl des Stadtkomman-
danten Ernst Rüdiger von Starhemberg die Vorstädte in Brand gesetzt worden waren,
bot sich den Osmanen zu wenig Schutz für einen offenen Angriff; darum begannen sie
mit der Untergrabung der Stadtbefestigung für einen von Sturmangriffen begleiteten
Minenkrieg. Zu Septemberbeginn war die Wiener Bevölkerung nach langen Wochen
des Widerstands durch Hunger, Sorgen um Nachschub, ständige Beschießung, soziale
Probleme und eine Ruhrepidemie zermürbt und sehnte das versprochene Entsatzheer
herbei. Tatsächlich hatten sich inzwischen die unterstützenden Truppen der Verbün-
deten angenähert. Am 12. September fand die entscheidende Schlacht am Kahlenberg
statt, in der in zähen Kämpfen die Höhen vor der Stadt eingenommen werden konnten.
Nach erbitterten Gefechten bei Weinhaus konnten die osmanischen Truppen letztlich
in die Flucht geschlagen werden. Diese Ereignisse, die nicht nur politisch relevant, son-
dern vor allem auch für die Bevölkerung nicht nur Wiens von großer Tragweite waren,
wurden vielfach und in verschiedener Form auch literarisch und für die gesangliche
Verbreitung verarbeitet.5 Naheliegend, dass aus diesem Kontext dialektale künstleri-
scher Erzeugnisse im Zeichen von Propaganda, Agitation und Herrscherlob bzw. Hetze
gegendenGegnerentstanden, indenenauchdieNöteundÄngstederBevölkerungan-
klingenkonnten.
GanzimZeichenderSiegesfreudestehtdas deutlichdialektalgestaltete LiedVom
Entsatzwien,dasundatiertundanonymüberliefert ist,abervermutlichinunmittelbarer
zeitlicherNähezumAusgangdesGeschehensentstandenseindürfteundtriumphierend
den Sieg über die Türken feiert.6 Die dramatischen und nachhaltigen Konsequenzen
für die Bevölkerung werden hier völlig ausgeblendet die Jubelstimmung sollte au-
genscheinlich ungetrübt bleiben, geht es doch darum, den glorreichen Potentaten zu
huldigen, den Sieg des Christentums zu feiern und den ketzerischen Feind noch einmal
rhetorisch inGrundundBodenzustampfen.DemheiterenAuftaktmit Huyhuy lustö
5 EinenÜberblickgebenS¸enolÖzyurt:DieTürkenliederunddasTürkenbildinderdeutschenVolksüberlie-
ferung vom 16. bis zum 20.Jh. München: Fink 1972. Bertrand Michael Buchmann: Türkenlieder zu den
Türkenkriegen und besonders zur zweiten Wiener Türkenbelagerung. Wien/Köln/Graz: Böhlau 1983.
Sandra Bittmann: Der mediale Diskurs um die zweite Türkenbelagerung Wiens zwischen 1683 und heute.
Wien2008[Dipl.].
6 Eine erste, normalisierende Edition des Lieds erschien bei Hartmann, Historische Volkslieder und Zeit-
gedichte 2, S.70ff. Diese Edition wurde weitgehend übernommen in Buchmann, Türkenlieder, S.98ff.
Die Normierungen, phonetischen Adaptionen und unmarkierten Emendierungen dieser Editionen wer-
denabernichtnurdemoriginalenWortlautnichtmehrgerecht, sondernwirkenteilssinnentstellend.Eine
wortgetreue Edition des Lieds ndet sich im Aufsatz von Marko Ikonic´: Von dem Entsaz wien. Ein dia-
lektales Propagandalied aus der Liedersammlung Ms. germ. oct. 230 der Staatsbibliothek zu Berlin. In:
Christian Neuhuber/Elisabeth Zehetner (Hg.): Bairisch-österreichischer Dialekt in Literatur und Musik
1650 1900.Graz:Leykam/Universitätsverl. 2015,S.118 132,hier126ff.
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen