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478 KÖRPER UND SINNLICHKEIT
hölzerne oder gep asterte Stufe, vor allem bei Bauernhäusern (von der aus auch die Notdurft verrichtet wer-
denkonnte)5,3Schaf]hierwohl:Holzgerüst5,4danhi]weg,voneinemweg5,5Gagerln]denDarmentleeren
6,3 thuts aft zamma] hilft dann dabei 7,2 Lenni] weiche, von weicher Konsistenz, beinah üssige aileft] elf
Zoll] Längeneinheit (nach dem Allgemeinen Maßpatent von 1754 entsprach das österreichische Zoll etwa
2,63cm)7,4 d'Neoth]dieNot7,5 Stadln]Scheunen
Noch heute ruft das fäkalkomische Lied ähnliche Irritationen hervor wie damals. Zu
rigide sind die Belange der Defäkation aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen,
als dass man nicht über die dreiste Offenheit der Thematisierung verblüfft wäre, und
nicht wenige werden sich wohl dabei ertappen, sich für ihr Belustigtsein zu schämen.
Schon das Lachen über den grotesken Konventionsbruch selbst wird also als Konven-
tionsbruch empfunden, da es die Berechtigung des kulturellen Wertesystems in Frage
stellt, ob man es nun mit Bachtin als befreiendes Lachen emp ndet oder mit Kay-
ser als abgründiges Lachen, das an das Grauen grenzt.10 Die Komik als Vereinigung
von Inkongruentem resultiert dabei aus der Attraktion des tabuisierten Abstoßenden.
Natürlich ist die Rede auch hier einem Bauern in den Mund gelegt, dessen Stand man
traditionell weniger ernste Zivilisationsbemühungen unterstellte. Die Botschaft ist bei
allerDrastikabereinesimpleWahrheit:InihrerLeiblich-undEndlichkeitsindalleMen-
schen vom Nachtkönig` bis zum Monarchen im Wesentlichen gleich dies ist auch die
Voraussetzung für ein gemeinschaftliches, normunterwanderndes Mitlachen, das sich
abhebtvomdisziplinierendenLachenüber jemanden.
Dass solche anspruchslosen Scherze quer durch alle Gesellschaftsschichten beliebt
waren, versteht sich von selbst. Niedergeschrieben wurden sie aber wohl nur, wenn sich
damit ein Mehrwert verband, z.B. jener einer interessanten, notierenswerten Melodie.
Mit viel Glück bleiben diese Niederschriften erhalten, so etwa ein Notenblatt aus der
Feder des Wiener Komponisten Johann Baptist Henneberg (1768 1822), der im letz-
ten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Kapellmeister am Freihaustheater war und dort u.a.
maßgeblichanderEinstudierungvonMozartsZauber ötebeteiligtwar.Auchdiebeiden
auf dem Blatt notierten Kanons über Harndrang und Flatulenz sollen im Beisein Mo-
zarts entstanden sein, wie der Vorbesitzer dieses einzigen Überlieferungsträgers, Aloys
Fuchs, vermutet.11 Viel Wahrheitsgehalt scheint diese Information aus verschiedenen
Gründen nicht zu besitzen. Die Lieder nach eigener Auffassung gut in nassen Ge-
sellschaften zu gebrauchen zeigen Merkmale des Improvisatorischen und schnell zu
PapierGebrachten;HennebergverfasstedieMusikwohlzueigenenWorten,die imPro-
zessderNiederschriftnochüberarbeitetwurden.
10 Vgl. Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg/Hamburg:
Stalling1957.
11 Vgl.denZusatzamSchutzblatt: 3sehrlasziveCanonsnichtvorJedermannsEinsichtgeeignet wohlaber
bei nassen Gesellschaften unter Männern gut zu gebrauchen. 1. die beiden Canons auf der 1ten Seite sind
von + Theaterkapellmeister Johann v Henneberg (intimmer Freund von Mozart componirt u geschrie-
ben. (StaatsbibliothekzuBerlin,Mus.ms.autogr.Henneberg, J.B.2M).
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen