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Um auf das Grab seiner Mutter Blumen zu legen, muss sich Bruno flach hin-
legen über die westliche Grabseite, wo der Vater begraben liegt: „Zu fünfzig
Prozent war er dann sozusagen jedes Mal schon in die DDR eingedrungen.“
(LV 80)
Während sich die bisher geschilderten Grenzen im Bildfeld der „Mordgren-
ze“ bewegen, finden sich in anderen Texten ambivalentere Gestaltungen dersel-
ben, die von Parodien bis hin zu Mystifizierung reichen.
Die Grenze zwischen Parodie und Mystifizierung
„So nahe der Grenze stehen wir alle. Für und wider, unter dem Bann der Gren-
ze“73, heißt es in Robert Neumanns Roman Die dunkle Seite des Mondes (1959),
den er nach der Rückkehr aus dem Exil und jahrelangem Schreiben auf Englisch
wieder auf Deutsch verfasst hat.74 Neumann hat in einer „engen, der Grenze nahen
[…] Stadt im östlichen Österreich“ (DSM 5) einen doppelbödigen, mit verschie-
denen Realitätsebenen spielenden und vieles im Geheimnisvollen belassenden
Text angesiedelt, der in mancherlei Hinsicht den Diskurs über die „Mordgrenze“
unterwandert. Der Autor selbst hat den Roman ein „Buch aus Spiegeln hinter
Spiegeln, Spur von Krähenfüßen über ein verschneites Feld, eine Schrift, die nicht
zu entziffern ist“75 genannt. Nichts ist darin so, wie es zunächst scheint, alles steht
im Banne des prekären Grenzraums, wo traumatisierte Menschen auftauchen,
wo andere verschwinden, wo Spione vermutet und dunkle Geschäfte getätigt wer-
den.
Als Vizepräsident des internationalen PEN war Neumann ein „versierte[r]
Mittler zwischen Ost und West, der auch den deutsch-deutschen Dialog for-
cierte“76. Anlässlich einer Lesung in Wien beschrieb er die Grenze zwischen
73 Robert Neumann: Die dunkle Seite des Mondes. Wien, München, Basel: Desch 1959, S. 164.
Im Folgenden als DSM mit fortlaufender Seitenzahl zitiert.
74 1961 erschien eine englische Ausgabe unter dem Titel The Dark Side of the Moon im Londoner
Hutchinson-Verlag. Vgl. Anne Maximiliane Jäger-Gogoll: Zwischen Exil und Remigration.
Robert Neumann: Die dunkle Seite des Mondes. In: treibhaus. Jahrbuch für die Litera-
tur der fünfziger Jahre 5 (2009): Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur, S.
347–
364. Der Titel erschließt eine Referenz auf den von Zoë Zajdlerowa mit einem Vorwort von
T.
S. Eliot 1946 unter dem Titel The Dark Side of the Moon erschienenen Text, in dem über das
russische Zwangslagersystem berichtet wird. Vgl: Anonym (i. e. Zoë Zajdlerowa): The Dark
Side of the Moon. With a preface by T. S. Eliot. London, Faber & Faber 1946.
75 Robert Neumann: Ein leichtes Leben. Bericht über mich selbst und Zeitgenossen. Wien, Mün-
chen, Basel: Desch 1964, S. 503.
76 Dorothée Bores: Im Machtbereich der SED-Diktatur. PEN in der DDR – ein politisches Inst-
rument. In: Dies., Sven Hanuschek (Hg.): Handbuch P.E.N. Geschichte und Gegenwart der
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44 1 Die Grenze
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Title
- Diskurse des Kalten Krieges
- Subtitle
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Size
- 15.9 x 24.0 cm
- Pages
- 742
- Categories
- Geschichte Nach 1918